DIE ENTWICKLUNG DER SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI Von Sektionsrat Dr. Adolf Schärf. Die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschöster- reichs” ist in der Republik die Nachfolgerin der „Sozial- demokratischen Arbeiterpartei in Oesterreich”, die von Dr. Viktor Adler auf dem Hainfelder Parteitag in den letzten Tagen des Jahres 1888 durch die Einigung der sogenannten „Radikalen” und „Gemäßigten” begründei worden war. Auf dem Boden der durch den Zusammenbruch der Monarchie geschaffenen Tatsachen waren es die sozial- demokratischen Abgeordneten des österreichischen Reichs- rates gewesen, die zuerst den Ruf nach der Zusammen- fassung der geschlossenen deutschen Siedlungsgebiete Desterreichs in einem republikanischen Staatswesen und nach dessen Angliederung an das Deutsche Reich er- hoben. Unter ihrer Führung, unter den Sozialdemokrater Dr. Karl Renner als Staatskanzler und Karl Seitz als Präsidenten, wurde das neue Staatswesen, die Republik Deutschösterreich eingerichtet, in deren Regierung sie während der Nationalversammlung der ersten zwei Jahre die entscheidenden Staatsämter besetzten... Die Partei, die bis dahin nicht einmal einen Bürgermeister in irgend- einer Gemeinde Oesterreichs zu stellen gehabt hatte, war fast mit einem Schlage dazu berufen worden, nicht nur die oberste Verwaltung der jungen Republik, sondern auch die des größten Landes und vieler Hunderter von Gemeinden, unter denen sich gerade die größten he- fanden, zu übernehmen. Die Funktion, die sie, ohne es zu wollen, aus ihrer Grundeinstellung heraus im alten Oesterreich erfüllt hatte, — ein Bollwerk der staatlichen Einheit zu sein, — fiel ihr auch in der jungen Republik gegenüber den in mehreren Ländern auftretenden Losreißungsbestrebungen zu. Ihr aus den Zeiten der Monarchie übernommener Parteiapparat erwies sich gerade bei solchen Anlässen als ein bedeutsamer, den staatlichen Zusammenhalt ‘der Republik verteidigender Organismus; dieser Organisations- apparat ist in den Jahren der Republik mächtig in die Breite und Tiefe gewachsen. Waren es im Jahre 1013 89.673 Männer und Frauen gewesen, die auf dem Boden des heutigen Oesterreich in der Sozialdemokratie orga- nisiert waren, so stieg ihre Anzahl im Jahre 1919 auf 332.391, im Jahre 1921 auf 49LI160 (davon 118.002 Frauen). im Jahre 1922 auf 553.022 (davon 131.018 Frauen); am 31. Dezember 1926 betrug ihre Mitgliederzahl 505.417 (davon 171.347 Frauen), ein Jahr darauf, am 31. Dezembeı 1927, besaß sie in 1562 „Lokalorganisationen”, die zu 143 Bezirksorganisationen zusammengefaßt sind, 660.586 Mitglieder, darunter 201.063 Frauen. Was diese Ziffern bedeuten, ermißt man vielleicht erst recht, wenn man erwägt, daß jeder zehnte Einwohner der Republik von der Sozialdemokratischen Parteiorganisation erfaßt ist, daß von der erwachsenen Bevölkerung, den Männern und Frauen zwischen 20 und 70 Jahren, jeder vierte Mann und jede zehnte Frau sozialdemokratische Parteimitglieder sind. Dieser zahlenmäßigen Stärke ihrer Organisation ent- ;pricht auch der Anteil der Sozialdemokraten an den bei den Nationalratswahlen abgegebenen Stimmen, . der im Jahre 1919 40°76°% betrug, nach einem Rückgang im Tahre 1020 auf 35'090 °%, im Jahre 1923 auf 3960 % und im Jahre 1927 mit 1,539.635 Stimmen auf 42'28% an- gestiegen ist. Ueber den Rahmen einer Partei der industriellen und gewerblichen Arbeiterschaft, die sie im alten Oesterreich gewesen ist, ist die Sozialdemokratie weit hinausgewachsen. Breite Schichten privater und öffentlicher Angestellter, von landwirtschaftlichen Arbeitern, ja von Kleinbauern und Gewerbetreibenden haben den Anschluß an sie zefunden; ihre Vertreter sitzen heute in den gesetzlichen Standeskörperschaften der Angestellten, der Gewerbe- rTeibenden und der Landwirte. Das durch die geschichtliche Entwicklung überholte, ıoch auf das „Hainfelder Programm” zurückgehende ‚Wiener Programm” aus dem Jahre 1901, dessen „Gegen- wartsforderungen” zu einem Großteil erfüllt waren, wurde m Jahre 1926 durch das „Linzer Programm” ersetzt. In ihm setzt sich die Sozialdemokratische Partei die Ueberwindung der kapitalistishen und den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung mit den Mitteln der Demokratie zum Ziel. Das Linzer Programm geht hiebei von einer Betrachtung der be- stehenden Ordnung aus, in der es die Keime einer ;ozialistischen erblickt; es legt ein klares Bekenntnis zur Jemokratie ab, von der nur im Falle eines gegen- revolutionären Putsches abgewichen werden dürfe: „Wenn es aber trotz aller dieser Anstrengungen der sozial- demokratischen Arbeiterpartei einer Gegenrevolution der Bourgeoisie gelänge, die Demokratie zu sprengen, dann könnte die Arbeiterklasse die Staatsmacht nur noch im Bürgerkrieg erobern. Die Sozialdemokratische Arbeiter- partei wird die Staatsmacht in den Formen der Demo- kratie und unter allen Bürgschaften der Demokratie ausüben.” Das Linzer Programm stellt, abgesehen von der Er- kämpfung des Findzieles. eine Reihe von „Nächsten Auf-