Artikel 01 des Bundesverfassungsgesetzes vom I. Oktober 
1920, hat „das Volk an der Rechtsprechung mitzuwirken. 
Bei den mit schweren Strafen bedrohten Verbrechen, 
die das Gesetz zu bezeichnen hat, sowie bei allen poli- 
tischen Verbrechen und Vergehen entscheiden Geschworne 
über die Schuld des Angeklagten. Im Strafverfahren 
wegen anderer strafbarer Handlungen nehmen Schöffen 
an der Rechtsprechung teil, wenn die zu verhängende 
Strafe ein vom Gesetz zu bestimmendes Maß übher- 
schreitet“. 
2. Die Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit. 
Mit dem Gesetze vom I5. Juni 1920, StGBl. Nr. 32L 
wurde die Militärgerichtsbarkeit, mit dem Gesetz vom 
gleichen Tag, StGBl. Nr. 323 das Militärstrafgesetz auf- 
gehoben. Die Militärpersonen wurden für die Friedens- 
zeit den allgemeinen Strafgerichten unterstellt. Nur im 
Kriege werden besondere Feldgerichte errichtet, Doch 
ist das besondere Gesetz, das die Feldgerichtsbarkeit 
regeln soll, noch nicht erlassen. An die Stelle der 
Bestimmungen des Militärstrafgesetzes über die gemeinen 
Delikte traten die Vorschriften des allgemeinen Straf- 
gesetzes, die Bestimmungen über die Standesdelikte 
wurden mit vielfachen Milderungen und einigen Verein- 
fachungen als Anhang des allgemeinen Strafgesetz an- 
gefügt. 
3. Andere Neuerungen im Strafverfahren. 
a) Durch ein Gesetz vom 23. Jänner I9019 und die 
schon erwähnte Strafprozeßnovelle vom 15. Juni 19020 
sind an dem Gesetz vom 23. Mai 1873, betreftend die 
Bildung der Geschwornenlisten, mancherlei Änderungen 
vorgenommen worden. Insbesondere wurde der Kreis der 
zum Geschwornenamt zu Berufenden im wesentlichen 
auf alle Personen ausgedehnt, die das Wahlrecht für 
den Nationalrat besitzen, insbesondere auch auf die 
"rauen. Ausgenommen sind nur die noch nicht Dreißig- 
ährigen, die im Staatsdienst oder Verkehrsdienst An- 
zestellten, die Geistlichen, die Volksschullehrer, das 
Jausgesinde, die in Armenversorgung Stehenden, die 
Cridatare, die Analphabeten und die in strafgerichtlicher 
Intersuchung befindlichen Personen. 
b) Früher wurden die Straflisten bei den Staatsanwalt- 
;chaften geführt, und zwar von jeder Staatsanwaltschaft 
lie Straflisten über die in ihrem Sprengel heimat- 
berechtigten Personen. Die Verkleinerung des Staats- 
zebietes ermöglichte es, die Führung des Strafregisters 
zu zentralisieren. Das geschah durch die Strafregister- 
‚erordnung vom 10. Dezember 1920. Seither ist die 
Polizeidirektion in Wien Strafregisteramt für das 
zanze Bundesgebiet. 
c) Vom 1. März 1919 bis zum 31. Dezember 1926 gab 
3s neben dem regelmäßigen Verfahren in Verbrechens- 
ınd Vergehenssachen das sogenannte vereinfachte Ver- 
ahren. Es wurde eingeführt, weil sich gegen Ende des 
lahres 1918 bei den Landes- und Kreisgerichten so große 
Zückstände angehäuft hatten, daß ein förmlicher Gerichts- 
;tillstand zu befürchten war. Die Vereinfachung bestand 
m wesentlichen darin, daß auf Antrag des Staatsanwaltes 
statt eines Kollegiums von vier Richtern (nicht auch statt 
des Geschwornengerichtes) oder (seit der Strafprozeß- 
1ovelle vom 15. Juni 1920) statt des Schöffengerichte* 
än FEinzelrichter über die Anklage zu entscheiden hatte, 
venn die angedrohte und zu erwartende verwirkte 
Strafe ein bestimmtes Maß nicht überstieg. Das verein“ 
"achte Verfahren sollte nach dem Gesetze vom 5. De- 
‚ember 1918 nur bis zum 31. Dezember 1921 anwendbar 
;ein. Die Geltungsdauer wurde aber mehrmals verlängert 
3rst Ende 1926 sind die Bestimmungen über das ver“ 
änfachte Verfahren außer Kraft getreten. In freier 
Nachbildung sind sie inzwischen in die deutsche Straf 
»rozeßordnung übergegangen. 
DAS GEFÄNGNISWESEN ÖSTERREICHS IN DEN JAHREN 1918 — 1028 
Von Sektionsschef Dr. Josef Mayer. 
Um ein richtiges Bild über die Entwicklung des Ge- 
‚ängniswesens in den ersten zehn Jabren der Republik 
sowie über die Tätigkeit der Justizverwaltung auf diesem 
Gebiete zu gewinnen, ist es notwendig, kurz die Haft- 
anstalten und deren Standesverhältnisse zu besprechen 
and die Verhältnisse zu schildern, die vor dem Kriege 
und im Zeitpunkte des Umsturzes in den Haftanstalten 
bestanden haben. Zur Zeit des Umsturzes bestanden 
fünf Männerstrafanstalten, nämlich in Garsten, Graz, 
Göllersdorf, Stein und Suben, und eine Weiberstraf- 
anstalt in Wiener-Neudorf, ferner Gerichtshofgefängnisse 
bei allen mit der Strafgerichtsbarkeit betrauten Gerichts- 
höfen erster Instanz und bezirksgerichtliche Gefangen- 
häuser bei allen Bezirksgerichten mit Strafgerichtsbarkeit. 
Dazu kamen infolge Übernahme der Strafgerichtsbarkeit 
über Heeresangehörige im Frieden (Gesetz vom 15. Juli 
1920, StGBI. Nr. 321) die Militärstrafanstalt in Möllers- 
dorf, die in eine Zivilstrafanstalt umgewandelt, im Jahre 
1025 aber gänzlich aufgelassen wurde, und das landes- 
zerichtlichhe Gefangenhaus Wien II, das aus den Haft- 
:äumen des Divisionsgerichtes in Wien entstanden ist 
Weiters wurden wegen der außerordentlichen Über” 
üllung der Gerichtshofgefängnisse und der Weibersitraf” 
ınstalt in Wiener-Neudorf vorübergehend (bis Mitte de* 
'ahres 1926) weibliche Kerkerstrafgefangene audı in 
ajner eigenen, von den Zwänglingen vollkommen ab- 
‚etrennten Abteilung der Landeszwangsarbeitsanstalt ir 
„ankowitz untergebracht. 
Im Herbste des Jahres 1921 wurden die Gebäude d““ 
shemaligen Monturdepots in Kaiser-Ebersdorf von der 
justizverwaltung übernommen und es wurde dort ein“ 
Jugendstrafanstalt errichtet, die im November 197 
jezogen wurde, 
Mit der Errichtung des Jugendgerichtes in Wien (av! 
3rund des Gesetzes vom 25. Jänner 19190, StGBI. Nr. 40 
ınd der Vollzugsanweisung vom 23. September 1920 
WGBI. Nr. 439) und dessen Übersiedlung in das neu“ 
\mtsgebäude (II. Bezirk, Rüdengasse 7—0) war die Er