DAS WIENER OPERNTHEATER IM LETZTEN DEZENNIUM HISTORISCH-KRITISCHER ÜBERBLICK. Von Dr. Julius Korngold. Das Haus am Opernring war am meisten bedroht, weil ©sS am meisten zu verlieren hatte. Sein Glanz, sein Ruhm, seine künstlerische Macht waren innig mit Hof und Monarchie verknüpft; und große Opernbühnen brauchen ein großes Hinterland. Wie diese anspruchsvolle Bühne auf der Höhe halten, Oesterreichs kostbarsten Kunst- besitz sichern, die große Tradition fortführen? Unter allen Kunstsorgen, die sich inmitten der gelösten Ord- aung mahnend erhoben, war diese die größte. Und so blickt das Haus tatsächlich auf zehn nicht immer leicht durchkämpfte Jahre zurück. Aber wenn es auch von manchen Schwankungen nicht verschont geblieben ist, auch noch immer nicht als völlig gefestigt gelten kann — CS steht aufrecht, hat vielfach erhöhte Geltung in der ihm aufmerksamer als je zugewendeten Welt gewonnen und findet an gesegneten Abenden seine stolze Ver- Sangenheit ungeschwächt wieder. Dies der gegenwärtige, Zuversichtlich stimmende Stand der Dinge. Der durch- laufene Weg soll einfache, schmucklose, aber auch jene Ungeschminkt wahrhaftige Darstellung finden, die allein historisch-kritische Betrachtung fruchtbar macht. Das glänzende Hofoperntheater war zur Opernbühne der Hauptstadt eines verarmten und verstümmelten kleinen Staates herabgesunken. Um so schwieriger und verant- Wortungsvoller die Aufgabe, zur künstlerischen Regene- Nerung auch eine völlige Neuorganisation des mächtiger Hilfsquellen beraubten Institutes treten zu lassen. Eine Kleine Revolte auch in der Direktionskanzlei hatte den bisherigen Leiter entthront. Wer sollte Herr sein? Mehr als je wurde die Frage der Führung wichtig, die volle Hingabe eines Künstlers von Persönlichkeit, Autorität, Theaterbegabung, idealem Enthusiasmus an sein Amt ötig. Als daher die Kombination auftauchte, diese Leitung dem berühmten Komponisten Richard Strauß gemein- ;am mit dem bisherigen Kapellmeister Franz Schalk Anzuvertrauen, wobei die Tätigkeit Strauß’ nur auf fünf Monate beschränkt sein sollte, waren zunächst Bedenken "nicht von der Hand zu weisen. Sie erwuchsen schon in Ansehung schwer zu vereinbarenden schöpferischen und theaterpraktischen Wirkens, zudem eines großen Schaffen- den von führender Bedeutung, und verstärkten sich anbetrachts der Fährlichkeiten einer Doppeldirektion, Vollends bei Abwesenheit des hervorragenderen Teiles durch die größere Hälfte der Spielzeit. Der Direktions- Star, der auf einige Monate erscheint, glänzt und ver- Schwindet: es schien ein durch die Lage des Operntheaters kaum zu rechtfertigendes Experiment. Andererseits war Nach dem Wegfall von Obersthofmeisteramt und Hof- ‘heaterbehörde auch eine Neuordnung der oberen In- Stanzen erforderlich geworden. Staatssekretariat oder Ministerium der schönen Künste? Administrativer Leiter Oder Intendant? Die Finanzsorge war brennend. So daß Auch bereits Verpachtung erörtert, der Gedanke einer Rückversicherung durch Privatkapital erwogen wurde Lgesichts solcher Möglichkeiten bedeutete die schließ- K © Entscheidung einen erwünschten Ausweg. Der alender wollte, daß das Haus vor der Feier seines ‘ünfzigjährigen Bestandes stand. Dieses Jubiläum fand den Staat als Herrn in seinem kostbaren Hause und Richard 5trauß und Franz Schalk als dessen artistische Spitzen. Schon während des Provisoriums, das dem Umsturze ‘"olgte, hatte Franz Schalk die Zügel ergriffen. Er ließ sofort die Absicht erkennen, ernste Kunst wieder voran- ‚ustellen, und auch die Novität dieser Zeit, Pfitzners ‚Palestrina”, gehörte auf dieses Blatt. Seine gebietende versönlichkeit, seinen richtunggebenden Geschmack, den »lanz seines Namens brachte Richard Strauß in das Juumvirat. Die Doppeldirektion übernahm ein Haus, ın das die Sorge pochte; es hatte sich anzupassen, ein- zuschränken, nachdem es so lange gewöhnt gewesen, ıus dem Vollen zu schöpfen. Künstlerisch trat es mit jeinem wundervollen Orchester, seinem erlesenen Chor, nit Künstlern wie Kurz, Jeritza, Lehmann, , Weidt, Gut- 2eil, Mayr, Slezak, Schmedes, Piccaver, Duhan und anderen, vor allem mit seiner Tradition, seinem kulti- vierten Geschmack, der sich immer wieder an der ge- ;unden Wiener Musikpsyche befruchtet, in seine republi- sanische Periode. Und hatte allerdings bald auch in die ıbenteuerliche Zeit der Inflation zu treten... Das Jubiläum des fünfzigjährigen Bestandes lenkte den 3lik in die große Vergangenheit und kräftigte damit len Mut zur Gegenwart. Mit 22 Festabenden, 22 Auf- ührungen verschiedener Werke des klassischen, roman- ischen, deutschen Repertoirs sowie lebender Komponisten, zunächst deutscher und auch österreichischer, schien es zleichsam auch seinen starken Willen zur Leistung zu zeloben. Dieser Wille hatte sich nur allzubald in der ıereinbrechenden Inflationszeit zu erproben, als sich der Jmsturz auch aller geistigen und wirtschaftlichen Werte zeltend machte, neben der geänderten Psyche des Cünstlers mit geschwächtem Zusammengehörigkeitsgefühle ınd gesteigertem Erwerbssinn auch die gewandelte Ge- chmacks- und Denkart eines Publikums neu aufgestiegener schichten und valutastarker Ausländer. Diese Zeit, in der lurch Steigerung der Betriebskosten und der Eintritts- »reise das Haus förmlich in ökonomische Abhängigkeit ‚on einem Publikum geriet, das solche Preise bezahlen sonnte, erforderte die Gegenwirkung besonderer künst- erischer Festigkeit und Initiative, besonderer organi- jatorischer und erziehlicher Entschlußkraft. Diesem Er- ordernis konnte nicht immer entsprochen werden; ehlten doch neben den beiden Direktoren, von denen ler eine nur fünf Monate amtierte, der andere auch administrative Geschäfte und Dirigierverpflichtungen außerhalb der Oper auf überlasteten Schultern tragen nußte, erstrangige Dirigenten zur Erziehung der Sänger, Konservierung des Orchesters, Bereicherung des Reper- oirs. Allerdings: je mehr die Krone fiel, desto mehr schien Oesterreichhs Musikwesen im Werte zu steigen. nsbesondere das Operntheater hatte auch in Tagen 1öchster künstlerischer Leistung nicht soviel Beachtung zefunden, als ihm jetzt zufiel. Das Ausland hatte förm- ich seine Scheinwerfer auf das Haus am Opernring