THEATER DER REPUBLIK Von Raoul Auernheimer. Als vor zehn Jahren das Reich auseinanderbrach, gab es Leute genug, die auch unserem Theater ein baldiges trübes Ende weissagten. Ein Blick auf den täglichen Anschlagzettel der österreichischen Schau- bühnen beweist, daß diese Befürchtungen grundlos waren. Die Speisekarte des Wiener Theaters, in dem ja schließlich alles zusammenkommt, was das Bundes- gebiet zu bieten hat, ist so lang wie immer; da und dort hat ein Gericht, eine Besonderheit den Platz gewechselt; man erhält etwa eine Komödie statt einer Öperette vorgesetzt. Deshalb vom Niedergang der Wiener Operette zu reden, ist ein Unsinn. Er ist nicht zu befürchten, zumindest nicht als Niedergang; und insoweit von einem leisen Zurückweichen, einem Blässerwerden dieser wangenroten Gattung ge- Sprochen werden kann, hat es ganz andere Ursachen als den Umsturz. Eine dieser Ursachen ist das Kino, dessen ansteigende Flut die Insel der Seligen, die die Wiener Operette vor dem Kriege war, etwas ver- Kleinert hat; eine andere ist der nur natürliche Rück- Schlag nach einem Jahrzehnt unerhörter Erfolge. Und übrigens ist die Wiener Operette, so liebens- würdig und beliebt sie sein mag, nicht das Wiener Theater. Das Wiener Theater — das die Blüte aus dem Saft des österreichischen ist — geht auf einen teils bäuri- Schen, teils höfisch-kirchlichen Ursprung zurück. Das Urelement ist der wiesengrüne Spitzhut jenes Salz- burger Bauern, der mit zwei frechen Hanswurstbeinen auf das bretterne Gerüst der wienerischen „Kreuzer- komödie” springt. Die Wiener der Prinz-Eugen-Zeit laufen auf den Hohen Markt, um sie zu sehen; aber Unweit davon, in der Gegend des heutigen Josefs- Platzes veranstaltet der Hof seine pomphaften Opern- Aufführungen. Und wieder um die Ecke, etwa bei den Schotten, finden geistliche Spiele statt, in denen ein humanistischer Bildungstrieb die seelsorgerische Ab- Sicht kreuzt. Aber dem Hanswurst bleibt da und dort in Plätzchen ausgespart, nur daß er sich manier- licher benehmen muß. Er lernt im achtzehnten Jahr- hundert von den Italienern, später von den Franzosen, die nächst der Burg spielen; am Ende aber jagen Ihn die gelehrten Herren, mit denen anzubinden für SCinesgleichen immer gefährlich bleibt, doch davon, ünd während er in die Vorstadt flüchtet — die Operette ist sein liederliches Kind — wendet sich das städtische Schauspiel, von Kaiser Josef zum „Nationaltheater” rmutigt, immer entschiedener seinen hohen kultu- ‚ellen; gesellschaftsbildenden Aufgaben, zu. Das Burg- .heater zieht aus ihnen die Summe und wird, indem 35 dies tut, zum Vorbild auch jener Sprechbühnen, wie sie sich das mündig gewordene Bürgertum in ler zweiten: Hälfte der Regierungszeit des Kaisers ‘ranz Joseph schafft. Die bedeutendste unter ihnen st das Deutsche Volkstheater, dieses Burgtheater ‚on Volkes Gnaden. Auch hier überwiegt zunächst ı1och das gesellschaftliche Moment, das für die rTanzisko-josefinische . Zeit bestimmend bleibt. Erst jeit dem Beginn dieses Jahrhunderts ergänzt es das soziale. Und vom da an entwickelt sich der Unter- ichied zwischen dem "Theater von heute und von rüher, der an den Spitzen merkbar wird. Das soziale Verantwortlichkeitsgefühl unserer führenden Dichter st größer geworden. Es ist wohl in der Republik iberhaupt größer als in der Monarchie, die den ınzelnen in gewissem Sinn entmündigt, wogegen ihn ler Freistaat zum mitverantwortlichen Teilhaber des sanzen macht. Die österreichische Literatur der Vorkriegszeit war eine rein individualistische, der Dichter ein Privatmann, der eingezogen lebte; trat ar mit der Gegenwart in Verbindung, so tat er es 1öchstens, um künstlerische Anregung aus ihr zu ziehen. Das war nicht immer so und braucht darum such nicht so zu bleiben; es ist auch nicht so ge- lieben. Der Dichter von heute, nicht nur der öster- ;‚eichische, ist weit eher das schmerzempfindliche antblößte Nervenende der Menschheit, als eine ins Leere greifende, zur Arabeske erstarrte Luftwurzel. Er bekennt seinen Glauben; er nimmt teil; er sümmert sich, und er tut dies nicht einem Programm zuliebe — wo dies geschieht, handelt es sich nur um 3än meist leicht durchschaubares literarisches Speku- 'antentum — sondern aus inneren AÄntrieben, die ihn lazu nötigen, sich auch in die Schmerzen des Nach- jarn zu versenken. Leiden verbrüdert, und was Wien ınd Oesterreich, was diese stolze Stadt und dieses ichöne Land in den letzten zehn, in den vorange- sangenen vier Jahren gelitten haben, ist mehr als ‚elbst der einsamste Künstler in seinem elfenbeinernen "urm ertragen kann. Er tritt heraus; er geht über