Theoretische Vorfragen. lich in einem solchen Approximativzustande, daß der Gedanke einer Gesetzmäßigkeit nicht völlig abgewiesen werden kann. Von allen Spezies des Fortschritts ist der Fortschritt auf dem Gebiete der Moral am wenigsten faßbar!®. Den Grad an Moral, den ein Volk besitzt, festzustellen, fehlt uns jedes Mittel. Die Sittlichkeit läßt sich schwerlich mit Zahlen belegen. Das wird am deutlichsten bei Untersuchung der Geschlechtsmoral. Wie ist in der Tat der Fortschritt oder Rückschritt eines Volkes bezüglich der Geschlechtsmoral festzustellen? Es hält schwer, für das, was wir als geschlechtliche Sittlichkeit bezeichnen, einen untrüglichen, wissenschaftlich brauchbaren Maßstab zu finden. Besondere ökonomische Formen und Einrichtungen er- geben notwendigerweise besondere Formen der Vergehen und Verbrechen. Selbst der Begriff der Strafbarkeit einer be- stimmten Handlung und ihre juristische Normierung unter- liegen bis zu einem gewissen Grade den jedesmaligen unab- wendbaren Notwendigkeiten eines gegebenen Komplexes so- zialer und ökonomischer Konstitutionen und Institutionen. Besonders vielfach hat man in der Abnahme oder Zunahme der sich in einem Volke vorfindenden Ziffernhöhe der unehe- lichen Geburten ein Anzeichen für das Wachstum oder die Ab- nahme der in diesem Volke vorhandenen geschlechtlichen Moralbegriffe erblicken wollen. Um die Richtigkeit dieser Auf- fassung zu prüfen, müssen wir uns zunächst die Frage ätio- 10 Loria erklärt jede Beschäftigung mit dem Problem des ethischen Fortschritts für unnütze Zeitvergeudung. Fortschritt sei nur bei Dingen (Ob- jekten) und nicht in den Menschen (Subjekten) feststellbar, und selbst die Vervollkommnung jener habe nicht die Fähigkeit, die Glücksmöglichkeiten dieser zu steigern (Achille Loria, „Siamo noi migliori dei nostri Ante- nati?“ in Loria: „Verso la Giustizia Sociale“, 2. Aufl., Mailand 1908, Soc. Ed. Libr., p. 611).