36 nungen bedurften ihrer nicht im jetzigen Sinne. Die einzelnen Menschen hatten, ständisch gegliedert, ihre bestimmte Stelle im Ge— samtaufbau. Romantische Verklärung sieht heute manchmal lauteres Glück darin. Es war wohl erheblich anders. Aber richtig ist, daß die moderne Wirtschaftsordnung der freien Betätigung das Schicksal des einzelnen unsicherer macht. Sie gibt stärkere Möglichkeiten des Aufstiegs, sie erzeugt stärkere Gefahren des Versinkens; die be— sonderen Verhältnisse der Nachkriegszeit mit Inflation und Massen⸗ arbeitslosigkeit haben diese Gefahren außerordentlich vergrößert. Hier liegt die Aufgabe der Sozialpolitik, derjenigen, die nicht mehr in alter ständischer Ordnung und die nicht durch eigenes Ver— mögen, sei es des Besitzes, sei es besonders wertvoller Arbeitskraft gesichert sind, die vielmehr trotz Arbeitswillens sich nicht selber gegen Erwerbsunfähigkeit und Unvermögen zur Lebenserhaltung sichern können und konnten. Ob nun Invalidität, Alter, Krankheit, Ungunst des Arbeitsmarktes Ursache sind, ein Mindestmaß von Daseinsbedingungen zu gewähren. Diese Auffassung ist weithin Gemeingut der deutschen Unter— nehmerschaft; sie betont mit Recht gleichzeitig aufs stärkste, daß die Sozialpolitik als wirkliche Staats- und Volkspolitik nicht die Verantwortlichkeit des einzelnen für sich und die Seinen schwächen darf. Wir sind, auch wenn wir uns sorgfältig von Übertreibungen und Verallgemeinerungen fernhalten, wie sie bedauerlicherweise vorkamen, nach dem Zeugnis unparteiischer Be— obachter an mehreren Stellen der Sozialpolitik dieser Gefahr in sehr bedenklicher Weise erlegen. Nun wird eben jetzt eine Stimme aus sozialistisch-wissenschaft⸗ lichen Kreisen, von Professor Ed. Heimann?), laut, die die Sozialpolitik nicht als Ergänzung der individuellen Wirtschaft gelten läßt, sondern in ihr ein bereits wirssames Mittel zur inneren Auflösung der kapitalistischen Wirt— schaftsordnung und zur evolutionistischen Ent— wicklung des Sozialismus sieht, ähnlich vielleicht wie Naphtali in der Weiterführung der Demokratie den Weg zum Sozia— lismus sucht. Die Sozialpolitik ist für Heimann Abbau der Kapital— herrschaft zugunsten der Beherrschten. Das ist freilich nicht mehr ganz Marx. Denn der echte Marxismus lehnte die Sozialpolitik *) Eduard Heimann, Soziale Theorie des Kapitalismus, Theorie der Sozialpolitik. 1929.