LV. AI 1. Aus den reichen Erfahrungen eines Lebens, an dem die ganze Entwicklung des deutschen dichterischen Subjektivismus wie ein Wandelpanorama vorübergezogen war, hat Goethe in hohem Alter geäußert: „Poesie wirkt am meisten im Anfang der Zustände, sie seien nun ganz roh, halbkultiviert, oder bei Abänderung einer Kultur, beim Gewahrwerden einer fremden Kultur, daß man also sagen kann, die Wirkung der Neuheit findet durchaus statt.“ Es ist einer der tiefen typischen Ein— blicke Goethes in geschichtliches Werden: das Geistesleben jedes neuen Kulturzeitalters ist zunächst vom Pathos der neuen Auf—⸗ zaben erfüllt, ist ästhetisch, ist enthusiastisch. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts aber, in den Zeiten des Überganges zum Subjektivismus, kam diese Stimmung vor allem der Dichtung zugute, denn die soziale Grundlage der geistigen Be— wegung war zum großen Teile kleinbürgerlichen Charakters: ind so fehlten die materiellen Mittel, die bildende Kunst zu oflegen; von ihr vor allem galt das Wort, daß der deutschen Kunst kein Augustisch Alter blühte. Indem aber die Dichtung ganz an erster Stelle Gefäß der weiteren Kulturentwicklung wurde, erhielt sie schon an sich, ganz abgesehen von dem wundersamen Zufall des Zusammen⸗ treffens einer großen Anzahl höchster Talente, eine Bedeutung, die sie innerhalb der deutschen Geschichte sonst nur noch ein—