!8 lassen, wenn die Verhältnisse in dem gesperrten Betriebe unerträglich sind. Hunderltausende Male spielt es sich jeden Tag ab, dass Käufer und Ver käufer sich einigen müssen auf einen Preis, sich entscheiden müssen, ob sie kaufen oder verkaufen wollen, oder ob sie auf einen Geschäftsabschluss verzichten. In Rücksicht auf die Werte, die bei einem Streik auf dem Spiel stehen, muss aber eine Einigung, wenn sie irgend erreichbar ist, erzielt werden. Bei dem obigen Streikbeispiel legte sich der Bürgermeister ins Mittel, da dem kleinen Städtchen durch den Lohnausfall ein erheblicher Schaden erwuchs, und es gelang ihm auch, die Verständigung herbeizuführen. Eine Verstärkung des Schutzes von Arbeitswilligen erscheint nicht erforderlich, da die bestehende Gesetze bereits die Verhängung recht schwerer Strafen ermög lichen, wenn Gewalttätigkeiten verkommen. Die Unsittlichkeit W orin besteht das Wesen des wahren Staats bürgers? «Man will heute das deutlich überall er kennbare Erschlaffen der staatbildenden und staatserhaltenden Gefühle in erster Linie durch allerlei direkte Belehrungen und patriotische Erweckungen kurieren, statt die sittlichen Grund kräfte zu bilden, zu üben und geistig zu klären. Das echte staatsbürgerliche Gewissen hat bis her seine Kraft aus den Tiefen des persönlichen Gewissens erhalten, die bürgerliche Unbestech lichkeit des Charakters. Die egoistische Haltung des modernen Men schen gegenüber dem Staat lässt sich gewiss nicht durch Aufstachelungderblossen nationalen Leiden schaften und Rasseninstinkte überwinden. Wir brauchen eine Pädagogik, die dem Erwachsenen die soziale Tragweite all seines Tuns und Lassens vergegenwärtigt und ihn über den Standpunkt des blossen Interessentums hinaus drängt. Früher fragte man, wie man das Gewissen dessen bilden könne, der das Schicksal von Millionen zu entscheiden bestimmt war, nämlich des Fürsten. Die demokratische Entwicklung hät die Verantwortlichkeit für das konkrete politische Geschehen immermehr auf das Haupt jedes ein zelnen Staatsbürgers gelegt. Wenn der blosse kurzsichtige Erwerbssinn bestehen bleibt, ohne jeden moralischen und sozi alen Horizont, dann wird der junge Mensch nicht an der Hand der konkreten Aufgaben seines zu künftigen Berufslebens darauf hingelenkt, seine Ziele wie ein Bandit zu verfolgen, sondern sich stets in einem höheren Dienst zu fühlen, als es der greifbare persönliche Vorteil ist Sokrates sprach es aus, dass die menschliche Gesellschaft nur ein Tummelplatz selbstsüchtiger Dagegen erscheint der Schiedsgerichtszwang als eine dringende Notwendigkeit. Der Unter nehmer, der mit seinen Arbeitern oder Ange stellten in Differenzen kommt, die nicht beigelegt werden können, muss von der Gegenpartei zur objektiven Feststellung der Rechtslage vorgeladen werden können. Unter keinen Umständen darf man aber auf ihn dahin einen Zwang ausüben, dass er solche Arbeiter und Angestellte, die sich ihm erkennbar feindlich gegenüber stellen, aus seinem Betriebe nicht entlassen darf, sondern zur weiteren Beschäftigung derselben verpflichtet werden kann. Bei einer Gesellschaft kann der Aufsichtsrat einen Direktor vor die Wahl stellen, aber im Be triebe selbst muss der Leiter oder Unternehmer die Möglichkeit haben, diejenigen zu entlassen, mit denen er zu arbeiten nicht gewillt ist. im Erwerbsleben Interessen bliebe, wenn nicht Menschen da sind, in denen die Treue gegenüber dem sittlichen Ideal stark genug ist, um ihnen die Kraft zu verleihen, lieber Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun. Die wichtigsteAufgabe allerstaatsbürgerlichen Erziehung liegt in der planvollen Pflegederjenigen Charaktereigenschaften, die für die richtige Auffassung und Erfüllung aller Pflichten und Verantwortlichkeiten des staatlichen Zusammen lebens besonders wichtig sind, und die zugleich auch den zuverlässigsten Schutz bilden gegen die besonderen Gefahren, die der wahrhaft staats bürgerlichen Gesinnung gerade aus dem modernen Erwerbsleben entstehen. In seinem Buch «Politik und menschliche Natur" schreibt Graham Wallas: Wenn unsere Jungen und Mädchen durch den Staatsbegriff so tief aufgerüttelt werden sollen, wie die Schüler des Sokrates es wurden, dann müssten unsere Lehrer und Schriftsteller sich an ihre Aufgabe mit der leidenschaftlichen Wahr heitsliebe und mit dem Forschermut der Dialektik des griechischen Weisens heranmachen." Die Sätze, die ich hier angeführt habe, habe ich mir aus dem Vorwort eines vortrefflichen Buches von Professor Förster-Wien über die »Staatsbürgerliche Erziehung"*) herausgezogen, weil sie mir so wertvolle Wahrheiten zu sein scheinen. Wie ist nun der Staat beschaffen, der sich heute bemüht, oder behauptet sich zu bemühen, seine Bürger sittlich stark zu machen. Es ist für mich ganz ausser Zweifel, dass die Ursache, für das Entstehen der Unsittlichkeit in unserem ge sellschaftlichen Leben in der Hauptsache in dem Erwerbskampf zu suchen ist. •) Verlag von B. Q. Teubner, Leipzig 1914.