182 Wenden wir uns jetzt zur Gleichheit. Die herausfordernde Erklä rung, die Throne erschütterte und gesalbte Köpfe von ihren heiligen Nacken rollen ließ: daß „alle Menschen frei und gleich geboren sind“, hat für uns nur noch einen historischen Wert. Sie verfocht die Forde rungen einer vergangenen Zeit; sie bekräftigte die Revolte einer Gene ration, die über ihre Einrichtungen hinausgewachsen war, die aber heute ihre Schlachten gewonnen hat und zur Ruhe gegangen ist. In den organischen Beziehungen ist die Gleichheit nicht eine Gleichheit der Uniformität oder der Ähnlichkeit, keine Vermögensgleichheit, auch keine Gleichheit in der Geschicklichkeit, noch eine Gleichheit der Lei stungen und Dienste, die man erwartet. Sie wird nicht in der Formel ausgedrückt: „Ich bin dir gleich", sondern in dem Satze: „Auf die Entwicklung der Persönlichkeit habe ich dasselbe Recht wie du.“ Doch selbst dies muß auf eine Entwicklung beschränkt werden, deren Richtlinien mit der individuellen und sozialen Wohlfahrt vereinbar sind. Diese Worte hätten z. B. im Munde eines Menschen, der ver brecherische Anlagen zeigt, keine Gültigkeit. Niemand hat das Recht, ein Verbrecher zu werden. Wie ich gezeigt habe, besteht unter diesen Umständen das Recht eines solchen Menschen vielmehr darin, einem Zwange unterworfen zu werden, der ihn auf den Weg der Lauterkeit und des guten Staatsbürgertums führt. Da sich die Organisation der Gesellschaft immer mehr kompliziert, verblaßt außerdem auch der einfache und ursprüngliche Sinn des Be griffes der Gleichheit. Auf einer primitiven Stufe des Gesellschafts zustandes kann die Gleichheit eine Gleichheit der Funktionen, des Be sitzes und der Vergnügungen bedeuten: Als Adam grub und Eva spann, Wo war da der Edelmann? Aber in einer organisierten Gemeinschaft heißt Gleichheit das ge meinsame Schaffen gleichmäßig freier Menschen an dem Werke des sozialen Ganzen — nicht dasselbe Werk, nicht dieselbe Art oder Be deutung der Arbeit, nicht Arbeit, für die vielleicht der gleiche Lohn entrichtet wird, obgleich die Vergütung der wirtschaftlichen Freiheit aller adäquat sein muß —, wo niemand in seinem Dienste eine Er niedrigung empfindet und jeder weiß, daß dieser Dienst für ihn der geeignetste ist oder daß er ihn nach bestem Können verrichtet. Die