Erstes Kapitel. Lage d. deutsch. Kapitalmarktes u. d. herrschende Anschauung. 9
Von anderer Seite wird die Lage dahin gekennzeichnet:
„Es fehlt uns in Deutschland keineswegs an Geld, d. h. an Umlaufs-und
Tauschmitteln, sondern an Kapital
In weiterem Zusammenhang wird die gleiche Anschauung in
dem oben S. 5 citierten Artikel der „Berliner Korrespondenz“ aus
geführt, der zugleich eine Abwehr der gegen die Währung des
Deutschen Reiches gerichteten Angriffe enthält. Wir konnten
übrigens in den letzten Jahren öfter beobachten, dafs ein flüssiger
Geldstand an der Börse zusammenfiel mit einer Zeit, in der eine
Knappheit des Kapitals für industrielle und öffentliche Zwecke
sich besonders scharf geltend machte 2 .
Meine Untersuchung des Kapitalmarktes hatte gegebenerweise
an die eingangs erwähnten Anschauungen anzuknüpfen. Ich be
gann damit, das thatsächliche Material zu prüfen, auf das man
sich von jener Seite berufen konnte. Es ergab sich hier bald die
ganze Schwäche einer vorweg eingenommenen Position. Das be
nutzte Material bestand zu einem Teil aus unkontrollierbaren
Ziffern und ganz willkürlichen Schätzungen, zum anderen Teil
aus privaten oder auch amtlichen Zusammenstellungen der an den
deutschen Börsen zugelassenen Wertpapiere. Auf den ersten Blick
zeigte es sich, dafs die (an sich zwar interessanten) Ziffern für
den Zweck, zu dem man sie verwandte, ganz untauglich waren.
Wo es sich um produktive Zwecke handelte, blähte man die
Milliarden auf, als ob es keine Grenzen der Wirklichkeit mehr
gebe. Nach einer anderen Richtung dagegen, von der wir später
1 Deutscher Ökonomist, 27. Jan. 1900 S. 38.
Obwohl demnach meine Arbeit den eigentlichen Geldmarkt nicht berührt,
so möchte ich doch — unsere besonderen, politisch-agitatorischen Verhältnisse ver
anlassen mich zu einer Äufserung, die ich sonst für überflüssig halten würde —
hervorheben, dafs der ungesunde Zustand des deutschen Kapitalmarktes in keiner
Weise zu einem Argument gegen unsere Währung verwendet werden kann. Gerade
die letzten Jahre haben wiederholt die Notwendigkeit erwiesen, unsere bestehende
Währung aufrecht zu erhalten und zu stärken. In ihren auf dieses Ziel gerich
teten Bestrebungen verdient die Leitung der Reichsbank nur Zustimmung. Wenn
mir die von der Reichsbank kundgegebene Auffassung vom Kapitalmarkt (oben S. 5)
nicht begründet erscheint, so wollte ich doch, um einem naheliegenden Mifsver-
ständnis vorzubeugen, die Übereinstimmung mit der Bankleitung auf ihrem eigent
lichen Gebiet, der Fürsorge für den Geldmarkt, betonen.