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mißtrauisch machen, wenn mit Anwendung dieses „heuri
stischen Prinzips" für die Entstehung des Christentums
und für die Reformation zwei geradezu entgegengesetzte
Lösungen gewonnen werden. Das Christentum soll ein
mal eine Widerspiegelung des römischen Weltreiches sein.
Wie konnte es sich dann über die Zeit des einheitlichen
Weltreiches hinaus halten, wo doch bis ins letzte Jahr
hundert hinein die Menschheit so zersplittert war? Ein
wenig anders, doch auf dasselbe hinauslaufend, ist folgende
Gegenüberstellung: Das Christentum wird daraus erklärt,
daß im römischen Kaiserreich das Arbeitsprodukt alsWare
behandelt wurde, also das Geldsystem aufkam. Daß nun
in der Zeit der Völkerwanderung die alte Religion der
Germanen zusammenbrach, kann man ja wirtschaftsge
schichtlich ableiten; aber wie die Germanen, die doch immer
noch in primitiven Wirtschaftsverhältnissen blieben, nun
gerade zur Aufnahme der „Ideologie" kamen, die dem
fortgeschrittensten Wirtschaftsbetrieb der Zeit entsprach —
wie will man das erklären? Und schließlich hatte das
Mittelalter, wie Marx selbst mehrfach betont, Naturalwirt
schaft; und doch wurde es ganz und gar von der „Ideo
logie" beherrscht, die nach Marx „einer Gesellschaft von
Warenproduzenten" entspricht!
Aber nun die andere Erklärung des Christentums als
Klassenideologie des Proletariats! Kautsky hat uns bor-
kurzem ein 500 Seiten starkes Buch über den „Ursprung
des Christentums" geschenkt. Er hat viel von Kalthoff ge
lernt, aber eins leider nicht: er weiß ganz und gar nicht,
was Religion ist 9 ). So vermag er das Christentum über
haupt nicht als eine religiöse Erscheinung darzustellen,
sondern das Urchristentum bleibt bei ihm eine rein soziale
Klassenbewegung, charakterisiert durch den glühendsten
Haß und die sinnlichste Begehrlichkeit. Daß ich so sage: eine
Übersetzung von der realen Basis in die religiöse Etage
findet, soweit ich sehe, bei Kautsky gar nicht statt. Die
Widerspiegelungstheorie hat in diesem entscheidenden
Werke versagt.
9 ) Ob daran seine Klostererziehung schuld ist?