Idar sein, daß die Situation Deutschlands heute wesentlich ungünstiger ist in
bezug auf eine militärische Auseinandersetzung mit der Entente, als sie für Ruß
land war. Wir wollen dabei nicht unterschätzen, was ein revolutionär begeistertes
Volk im einmütigen Aufstand gegenüber kapitalistischen Söldnerscharen zu leisten
imstande ist. Aber unsere geographische Lage, die geringe räumliche Ausdeh
nung des Landes, die lebenswichtige Bedeutung gerade der gefährdeten Gebiete
Rheinland-Westfalens und des Ruhrgebietes für den Kampf stellen eine der
artig nationale Erhebung in ihrem Ausgang zum mindesten sehr unsicher dar.
Das gilt für den heutigen Zeitpunkt. Wenn mit der sozialistischen Erhebung
Deutschlands der Eintritt der französischen Revolution und damit die deutsch-
französische* Verbrüderung verknüpft wäre, so würde sich die Situation in einem
ganz anderen Lichte zeigen. Also auf den Zeitpunkt kommt es an. Unsere
Aufgabe als Politiker muß es sein, daß, wenn diese eine Möglichkeit der Aus
einandersetzung, die Aufnahme des Machtkampfes gegen das Finanzkapital, zur
Notwendigkeit wird, wir neben Rußland vor allem Frankreich zum
Bundesgenossen haben. Damit wird die internationale Situation
völlig verändert. An Stelle der Kolonisierung Europas tritt die
Sozialisierung. So wie die Dipge sich auf Grund der wirtschaftlichen
Verhältnisse in Frankreich entwickeln müssen, stellen sie unbedingt in unsrer
außenpolitischen! Berechnung einen ungeheuer wichtigen Posten zu unseren Gun
sten dar. Diese Position verlangt aber eine sorgfältige Behandlung. Sie wird
durch Radikalismus im üblen Sinn des Wortes, durch schematische Nachahmung
des russischen Vorbildes nicht gefördert, ja Unter Umständen aufs schwerste
geschädigt.
Die zweite Möglichkeit eines sozialistischen Deutschlands, sich gegenüber dem
siegreichen Finanzkapital zu halten, besteht darin, daß ein Kompromiß, eine Art
Waffenstillstand zwischen dem eigenen Sozialismus und dem fremden Kapitalis
mus zustande kommt, eine Art Übergangsstadium, in dem wir zwar i m Lande
den Sozialismus entwickeln können, aber in wirtschaftlicher Abhängigkeit von
dem siegreichen Finanzkapital. Es käme letzten Endes darauf hinaus, daß wir
weltwirtschaftlich zur Bedeutungslosigkeit gesunken, staatspolitisch mehr oder
weniger die sozialistische Gesellschaft innerhalb unserer Qrenzpfähle durchführen
könnten in der Weise, wie Neu-Seeland oder Australien eine Reihe von
großzügigen Verbesserungen ihres Innenlebens gegenüber dem des Mutterlandes
erreicht haben. Wir würden aber doch eine verschleierte Kolonie sein.
Weltmachtpolitik liegt in keiner Weise im Geiste des Sozialismus, aber hier
handelt es sich weniger darum als um die Tatsache, daß der Sozialismus
eines Landes letzten Endes auf die Entwicklung auch der übrigen kapitalistischen
Staaten zum Sozialismus angewiesen ist. Wenn die Kolonisierung Deutschlands
kommt, dann muß die Arbeiterklasse unter allen Umständen die sozialistische
Verwaltungs- und Verfassungsform durchzusetzen versuchen.
Die zweite Möglichkeit scheint uns wenig Wahrscheinlichkeit für sich zu
haben. Der Politiker muß aber alle Erscheinungsformen, die eintreten können,
erkennen und in seine Berechnung einstellen.
Eines ist aber ganz gewiß — und das hat vor allem der Verlauf der russi
schen Revolution gezeigt —, wenn die politische Macht erobert worden ist —,
dann muß zunächst das getan werden, was zu ihrer Behauptung gegen
den inneren und gegen den äußeren Feind notwendig ist. Es darf sich nicht —
und das war ein Fehler der Russen — um eine schematische Erfüllung program
matischer Forderungen handeln. Es kommt ganz auf die Situation an, und
von ihr hängt es ab, was im' Augenblick das Wesentlichste ist. Alle
Beschäftigung mit Nebensächlichem bedeutet Kräftezersplitterung, die unter allen
Umständen vermieden werden muß. Wir können heute schon mit ziemlicher
Sicherheit die wesentlichen Aktionen zur Sicherung der politischen
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