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Die Ordnung der Dinge, wie sie in Byzanz bestand, erschien allen mit ihm
in Berührung tretenden jungen Völkern, den Bulgaren und Serben so gut
wie den Russen, als höchstes Ziel politischen Strebens. In Rußland kam der
absolutistischen Staatsform die Anlage des Volkes noch besonders entgegen.
Das Volk verlangte und verlangt danach, geführt zu werden. Es will an der
höchsten Stelle einen Vertreter haben, dem es seine Verehrung und seinen treu
herzigen Glauben entgegenbringen kann; und es hat nichts dagegen einzu
wenden, ja, es ist stolz darauf, wenn er den Machttrieb kräftig betätigt.
Im Rahmen des Staates und durch den Staat hindurch wirkt nun die
Kirche auf die unter dessen Leitung sich vollziehende Kulturarbeit. Man darf
sich in Rußland so wenig wie in Byzanz durch die häufigen Reibungen zwischen
Staat und Kirche über das wahre Verhältnis der beiden Größen täuschen
lassen. Gewiß ist die Kirche höchst empfindlich, wenn sie — wie das unter
Peter dem Großen geschah — vom Staat auf ihrem eigensten Gebiet getroffen
wird. Gewiß setzt sie, die grundsätzlich das Erbe der Väter hüten will, allen
Neuerungen ein starkes Mißtrauen entgegen. Aber das schließt keineswegs aus,
daß die Kirche dem Staat, den sie als religiöses Gut schätzt, zu Hilfe kommen
will, und daß sie ihm Kräfte liefert, die gerade der aufsteigenden Entwicklung
zugute kommen.
Die Kirche schafft in Rußland vor allem den Boden, auf dem sich jede
Kulturarbeit erhebt, indem sie erst eine wirldiche Volksgemeinschaft, ein
Volksgefühl hervorruft. Man muß sich vergegenwärtigen, wieviele zum
Teil sich feindlich gegeneinander stellende Völker das heutige Rußland um
schließt. Der Staat mit seinen Zwangsmitteln hätte es niemals fertig gebracht,
sie innerlich miteinander auszugleichen. Die Kirche hat es bewirkt, indem sie
ihnen einen gemeinsamen geistigen Besitz verlieh.
Wie groß ihr Anteil an der Schaffung der Volkseinheit war und ist, darauf
hat die russische Geschichte mehr als einmal die Probe gemacht. Vor allem
in der Zeit der Tatarenherrschaft, als der Staat niedergebrochen war, hat sie
allein das Volk zusammengehalten, so gut wie Bulgaren, Serben, Griechen und
Armenier die Rettung ihres Volkstums ausschließlich ihrer Kirche verdanken.
Man darf wohl die Erage aufwerfen, ob ein so ungeheuer ausgedehntes Reich
wie Rußland überhaupt regierbar wäre, wenn nicht dieses geistige Band auch
-die Entferntesten und die auf der niedrigsten Stufe Stehenden an die Gesamtheit
heranzöge. Die Kirche erzeugt erst die warme Empfindung für das Ganze,
die die Voraussetzung für das Wirken im Ganzen bildet. Es ist wahr, die Kirche
arbeitet selbst nicht ausschließlich mit geistigen Mitteln. Sie greift ihrerseits
wieder ohne Bedenken auf die Hilfe des Staates zurück, wo sie ihre Stellung
bedroht sieht. Aber Eroberungen, wie sie der russischen Kirche gelungen
sind und immer noch gelingen, macht man doch zuletzt auf diesem Wege