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nicht. Was die russische Kirche immer noch vorwärts bringt, das ist viel
mehr der sittliche Druck, der von ihren Anhängern ausgeht. Volksgefühl
und religiöses Gefühl sind dem Russen so sehr eins geworden, daß er nur den
jenigen als Volksgenossen im wahren Sinne zu achten vermag, der zugleich
ein Rechtgläubiger ist. Darin liegt keine Neigung zu ausgesprochener Ver
folgung Andersdenkender. Dafür liebt der Russe Aufregungen viel zu wenig.
Wohl aber liegt darin der kräftige Wille, sein eigenes Volkstum auch von einem
geistig höherstehenden Bestandteil sich nicht auf lösen zu lassen, vielmehr es
gerade dort durchzusetzen. Und die Überlegenheit der Zahl bringt es mit
sich, daß dieser zumeist und am stärksten in der Stille wirkende Einfluß nie
ganz ohne Erfolg bleibt.
Aber die Kirche verleiht dem von ihr gefestigten Volkstum auch den
stärksten Antrieb zum Höherstreben. Denn sie flößt dem Volk den Glauben
an die eigene Bestimmung und an eine große Zukunft ein. In Byzanz hat
sich während des furchtbaren, jahrhundertelangen Ringens mit dem Islam
das Selbstgefühl des Volkes zu der Überzeugung gesteigert, das auserwählte
Volk zu sein. Der Kampf um den Fortbestand des Reiches war ja zugleich
ein Glaubenskampf. Man war sich bewußt, die Sache Christi gegen dessen
gefährlichsten Gegner zu führen. Darum handelte es sich, ob Christus siegen
sollte oder der Eügenprophet. Als Konstantinopel endgültig unterlag, schien
die Vorsehung selbst kund zu tun, daß sie vielmehr ein anderes Volk erkoren
hätte. Eindrucksvoll genug war das Zusammentreffen, daß gerade gleichzeitig
Rußland wieder aufzusteigen begann. Der Glaube an einen von Gott ihm
gewährten Vorzug hat beim russischen Volk noch tiefere Wurzeln geschlagen
als in Byzanz. Es nennt sein Rand das „heilige“ Rußland. Der Ausdruck hat
einen ernsthafteren Sinn, als wenn ein beliebiges anderes Volk den vater
ländischen Boden als heiligen Boden bezeichnet. Das Rand ist heilig, weil
ein rechtgläubiges, ein gottgeliebtes Volk — so lautet der Ausdruck — darin
wohnt. Es verrät wenig Sinn für die Mächte der Geschichte, wenn man diesen
Glauben belächelt oder den Gegensatz zwischen dem darin liegenden Anspruch
und offenkundigen Tatsachen des Volkslebens spöttisch hervorhebt. Ohne
ein ähnliches Bewußtsein und wohl auch ohne ein Stück Selbstüberschätzung
ist niemals ein Volk vorwärts gekommen. Gerade die religiöse Begründung
dieses Selbstgefühls gibt aber dem russischen Volk die unvergleichliche Wider
standskraft gegen Angriffe von außen her, die jeder Gegner, der den russi
schen Boden betrat, bis herab auf Napoleon zu erfahren hatte. In diesem
Glauben wurzelt aber zugleich auch die Überzeugung des Volks Von seinem
Recht auf Wachstum. Weltherrschaft ist kein zu hoch gegriffenes Ziel für ein
auserwähltes Volk. Die gewaltigen Ausdehnungsbestrebungen, die Rußland
unternimmt, gehen nicht auf den Machthunger einzelner an der Spitze ste