Full text: Russlands Kultur und Volkswirtschaft

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hender Persönlichkeiten zurück. Sie entsprechen vielmehr den Vorstellungen, 
die das Volk selbst von seinem Beruf in der Geschichte hat. Es ist bedeutsam, 
wie nah sich das russische Volk in diesen Gedankengängen mit seinem Neben 
buhler England berührt. 
Derselbe religiöse Glaube hilft dem Bussen aber auch innerlich über den 
Abstand hinweg, den er bei einem Vergleich seiner eigenen Kulturleistungen 
mit denen anderer Völker empfindet. Mit einem gewissen trotzigen Stolz setzt 
man in Rußland da, wo man von anderer Seite her auf diese Tatsache auf 
merksam gemacht wird, der „verfaulten Kultur des Westens“ die eigene un 
verdorbene „Natur“ entgegen. Man irrt, wenn man glaubt, daß dies eine er 
künstelte Sprechweise oder vollends etwa erst eine Rousseau abgelernte 
Redensart wäre. Nein, das ist angestammte, echte Empfindung. Im ähn 
lichen Sinne hat schon das alte Christentum sich mit Stolz eine Religion der 
Barbaren genannt. Das Mönchtum hat dann, kynische und christliche Ge 
danken miteinander verbindend, das tiefsinnige Schlagwort geprägt, daß 
Hinkehr zu Gott so viel wie Wiederfinden der Natur sei. Seitdem zieht sich 
durch die ganze Geschichte der griechischen Kirche der Zwiespalt zwischen 
einer die Kultur preisenden und einer sie ablehnenden Stimmung hindurch. 
Und so viel Undank und auch Täuschung in der russischen Selbstbeurteüung 
liegen mag, wenn man die eigentümliche Rage des russischen Volks innerhalb 
der allgemeinen Kulturbewegung billig in Betracht zieht, so wird man die 
Bedeutung und das Recht seiner Auffassung nicht bestreiten dürfen. Das 
russische Volk ist in seiner Jugendzeit hineingewachsen in eine alte, eine über 
alterte Kultur. Es hat, wie es ein geistiges Sonderleben zu führen begann, nach 
einander den Einfluß der polnischen, der deutschen, der holländischen, der 
französischen Kultur erfahren. Wenn es in dieser Überschwemmung mit 
fremden Erzeugnissen sein Eigenstes nicht verlieren sollte, so bedurfte es einer 
Schutzwehr, die für die selbständige Entwicklung Raum schuf. Und nur die 
Religion und das aus ihr fließende Selbstgefühl war stark genug, diesen Rück 
halt zu gewähren. Sie festigte im russischen Volke das Vertrauen auf sich selbst 
und den Mut, eigene Wege zu gehen trotz jenen älteren Kulturen. Tatsächlich 
wird man wahrnehmen, daß überall da, wo es den Russen gelungen ist, ihren 
eigenen Stil zu finden, die Religion die Rolle der Befreierin gespielt hat. 
Dazu kommt schließlich noch ein Letztes. Die Geduld, mit der das 
russische Volk gewohnt ist, auf die Stunde der Vorsehung zu warten, befähigt 
es zu Leistungen, denen Völker rascheren Blutes kaum gewachsen wären. 
Man hat dort eine geräuschlose, ruhige Art des Arbeitens. Man steckt sich 
hohe Ziele, meint aber nicht, sie mit einem Schlage erreichen zu müssen. Man 
rechnet gelassen mit langen Zeitspannen und läßt sich nicht leicht durch Miß 
erfolge von dem einmal eingeschlagenen Wege abdrängen. Das sind Eigen
	        
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