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Erster Abschnitt. Die Erklärungen der Wirtschaftskrisen.
Grundsätze auf das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeit
nehmer angewandt, die alten Ordnungen, welche dieses Verhältnis bis
ins einzelne geregelt hatten, waren in Fortfall gekommen, und an ihre
Stelle war der freie Arbeitsvertrag getreten. Keine öffentlichen Gen
walten, keine Verabredungen unter Arbeitern oder Unternehmern
sollten in Zukunft als störend im Sinne dieser individualistischen
Auffassung in das Arbeitsverhältnis eingreifen. Man hielt diese
Freiheit der Arbeit und des Arbeitsvertrages auch durchaus für im
Interesse der Arbeiter liegend. Es hat aber kaum eine Zeit gegeben,
in welcher die Lage der Arbeiter eine so gedrückte, ihre Arbeitszeit
eine so ausgedehnte, ihre Lebenshaltung und Lage eine so schlechte
gewesen war, als in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach Ein
führung dieser wirtschaftlichen Freiheit. Es war also hier eine ähn
liche Sachlage vorhanden wie bei diesen wirtschaftlichen Störungen.
Auch in dem Verhältnis von Produktion und Konsumtion war der er
wartete Gleichgewichtszustand ausgeblieben; statt der erwarteten
Harmonie war, vor allem in England damals, eine gewaltige Über
produktion mit großen Absatzstockungen, die man in einem solchen
Maße bis dahin nicht gekannt hatte, eingetreten.
Solche Erschütterungen des Wirtschaftslebens mit ihren ver
hängnisvollen sozialen Wirkungen konnten aber unmöglich an der
nationalökonomischen Wissenschaft spurlos vorübergehen. Allent
halben war das Gegenteil dessen eingetroffen, was diese individua
listische Richtung in der Nationalökonomie angenommen hatte, und
die nationalökonomische Wissenschaft stand nun vor der Aufgabe,
diesen Widerspruch zu erklären.
Es entstanden jetzt zwei Richtungen, welche in ganz
entgegengesetzter Weise diesen wirtschaftlichen Störungen gegenüber
Stellung nahmen. Die eine baute vollkommen auf den oben dar
gelegten Lehren der individualistischen Nationalökonomie auf. Sie
hielt an dem Postulat der wirtschaftlichen Freiheit als dem Ideal
aller Wirtschaftspolitik fest und suchte den Widerspruch zwischen
der Welt der Tatsachen und dem, was man in optimistischem Glauben
erhofft hatte, zum Teil damit zu lösen, daß sie diese Notstände auf
das Walten außerwirtschaftlicher, mit der Kraft eines Naturgesetzes
wirkender Faktoren zurückführte. Es sei beispielsweise nur an das
Malthusschc Bevölkerungsgesetz und die sich darauf aufbau'ende
pessimistische Lehre Ricardos von der Entwicklung in der Verteilung
des Volkseinkommens erinnert 1 )-
ü Auf diese Zusammenhänge bin ich eingehender zu sprechen ge
kommen in meiner kleinen Schrift: Soziale und wirtschaftspolitische An
schauungen in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegen
wart. Leipzig 1919. Sammlung „Wissenschaft und Bildung“. Bd. 60.