Full text: Die Berliner Arbeiterbewegung von 1890 bis 1905

An die 
Wähler des 5. Berliner Keichstags-Wahlkreises. 
Arbeiter! Handwerker! Mitbürger! 
Am 15. Juni hat der Kandidat der Sozialdemokratie 
im 5. Berliner Wahlkreis die meisten Stimmen auf sich 
vereinigt. Die Wähler haben damit bekundet, daß sie kein 
Vertrauen mehr zu dem bisherigen Vertreter des Kreises haben, 
der kaum ein Drittel der abgegebenen Stimmen erhielt, kein 
Vertrauen zu dem sterbenden Freisinn, der widerstandsunfähig 
«ich «icht ein einziges MlandaL «rungm hat. 
In Stadt und Land, in Werkstatt und Fabrik, wo irgend 
nur politisch denkende Männer weilen, haben sie sich zu 
Millionen der Fahne der Sozialdemokratie zu 
gewandt und von überall erklingt der Ruf in'ü Ohr der Mäch- 
Ligen und Neichen. Schafft menschenwürdige Zustände, 
gebt Freiheit und Gleichheit in politischer und sozialer Be 
ziehung. — Keine neuen Steuern, - keine Erhöhung der 'Lasten 
des Volkes, keinen Mann und keinen Groschen dem 
Moloch des Militarismus. 
Wähler! Zwischen Euch und uns bedarf es nicht 
vieler Worte; Ihr wißt, was wir wollen, wir haben Euch in 
unseren Flugblättern und Versammlungen unsere Forderungen 
an den heutigen Staat und unser Programm genügend ausein 
andergesetzt. Wir haben Euch gewarnt, den gruseligen, selbst- 
gemalten Zukunftsbildern der Richter und Genosien zu trauen. 
— Ihr glaubtet uns und habt unserem Kandidaten eine 
imposante Stimmenzahl zugewandt; nach eine letzte An 
strengung und der Sieg ist unser! 
Arbeiter! Handwerker! Kleine Beamte und 
Geschäftsleute? Wer nimmt sich Eurer thatkräftig an? 
Wer kämpft unablässig und allein für eine .Berdefferung 
Eurer Lage, den großen Herren, den Schlotbaronen 
und Krautjunkern, dem hohen Beamtenthum und der 
deulschfreisinni^en Vetterwirthschaft im rothen Hause 
rum Tr°c? Einzig und allein die Sozial 
demokratie! 
Die Sozialdemokratie ist eingetreten für einen wirklichen 
Arbeilerschutz, für den Schutz der Kinder und Frauen, für die 
Sonntagsruhe der kaufmännischen Angestellten, für Vereins- 
freiheit und besiere Bezahlung der kleinen Beamten, für 
Beseitigung der das Volk ausplündernden Zollwirthschaft. 
Allein die Sozialdemokratie hat ernstlich den Militarismus 
bekämpft, der durch feine ungeheuren Anforderungen an die 
Steuerkraft des Volkes, durch den die Selbstständigkeit ertödten- 
den Drill, durch feine Soldalen-Mißhandlungen und seinen 
Paradepomp, durch unerträgliche Gut- und Blulsteuern die 
Wehr- und Nährkraft des deutschen Volkes gefährdet Das 
Volksheer, das wir fordern, ist die einzige Bürg 
schaft deü Friedens und der Freiheit. 
Wähler! Wie sähe es im Deutschen Reiche aus, wenn' 
der Deutsch-Freisinn an'ü Ruder käme. Ein lehrreiches 
Beispiel habt Ihr an der Vetterwirthschaft und dem 
Cliquenwesen im rother, Hause. Wer deklamirt im 
Reichstage gegen die indirekten Steuern und zieht von den 
Berliner Steuerzahlern die härteste und ungerechteste in 
direkte Steuer, die Miethssteuer, ein, die den Arbeiter 
und den kleinen Gewerbetreibenden am schwersten bedrückt?. 
Wer schädigt die kleinen Unternehmer und die Arbeiter durch 
die Lotterwirthschast des Submissionswesens, dah 
nur dem mit Magistrat und Stadtverordneteu- 
mehrheit versippten und verschwägerten Groß- 
Kapitalisten den Beutel füllt? Der deutsche Freisinn ist 
es, der andererseits den arbeilerfreundlichen Antrag der Sozial 
demokratie. den bei städtischen Arbeiten Beschäftigten -von 
stadtwegen menschenwürdigen Lohn und Arbeitszeiten auszu- 
bedingen, von den Commisstonären des Gelvsackcs 
niederstimmen ließ. Wer hatte für die blasse Noth nur Hohn 
und Spott, wer hat den Nothstand geleugnet, wer hat nach 
erbitterter Gegenwehr sich die klägliche Aettclsuppe der Wärme» 
stuöcn abringen lasten? Wieder und immer wieder der Deutsch- 
Freisinn, der im rothen Hause ohne das Feigenblatt der Demo 
kratie nur die nackten Interessen des Westhes vertritt. 
Brutal nach unten, knechtisch nach oben, quiltirt der 
Deutsch-Freisinn den Fußtritt, welchen ihm die Mächtigen gegeben, 
durch Stiftung eines kostspielige» Nrurrk-MruunenS, er 
richtet ans Kosten der Steuerzahler. Wer begeistert sich mit 
Mannesmuth vor Königsthronen für die Nirderlegung der 
Schloßfreiheit, für den groben Lotterie-Unfug, für den Ententeich? 
Das sind stets und ständig die 
Knopstöch-Ualrioten. 
Wähler? Entreißt den 6. Wahlkreis btcjtfft 
Leuten, die in Berlin ausgespielt haben. Geht früh 
zeitig und vollzählig zur Urne und wählt Mann für Mann 
den Kandidaten der Sozialdemokratie, den Klavier-Arbeiter 
Mobert KchmiÄk. 
Wähler! Die Sozialdemokratie allein ist eine 
wahre Volkspartei, sie fordert die Volksherrfchaft, sie will, 
daß. das Volk selbst seine Geschicke lenke. Sie fordert,, da» 
die Gleichheit vor dem Gesetz kein leerer Schall, sondern 
eine lebendige Wirklichkeit sei. Deshalb beküinpft sie die 
Klassenherrschaft, deshalb tritt sie ein für politische 
Freiheit und für soziale Reform, deshalb ist sie geschworene 
Gegnerin des Militarismus, an besten Statt sie die Volks- 
bemafsmmg setzen will.. 
Darum fort mit dem Militarismus! Fort mit dem 
Kapitalismus! Fort mit den indirekte» Steuern! Gebet 
einhellig Eure Stimme den Kandidaten der Sozialdemokratie, 
dem Mann aus dem Volke, dem 
Kkavieraröciter 
Robert Schmidt. 
Unsere Versammlungen finden statt: 
Donnerstag, den 22. Zuni, Abends 8 Uhr in Mrauerei Iriedrichshain (Lips). 
Referent: Reichstagsabgeordneter Dr. Wrrmo Kchönkank. 
Areilag, den 23. Juni, Abends 8 Zlhr; 
1. Germania-Säle, Chaufleestr. 103. Referent: Reichstagsabgeord. Jaul Singer. 
2. Schützenhaus, Linienstr. 5. Referent: Reichstagskandidat Aoöert Schmidt. 
S-raiü«--rlll4 Nr SkbaWoii: N«d. Drescher, Lmrn-Sirchr äO. Dr-L: M. Schrimiir, Ln»mca-Str<ch« !64 - 
89. Sozialdemokratisches Flugblatt für die Stichwahl im 5. Berliner Reichstags- 
Wahlkreis 1893
	        
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