Full text: Die Soziologie

Die Gesellschaft und die gesellschaftlichen Beziehungen 
also daraus folgern, daß die Vergesellschaftung da auftritt, wo 
die Intelligenz sich zu betätigen beginnt. 
Kommen wir zu der Menschheit. Hier tritt die Vergesell- 
schaftung augenscheinlich in ausgedehntestem Maße in die Er- 
scheinung. Unter allen bestehenden Gruppenbildungen sind 
es die‘ menschlichen Gesellschaften, die uns am meisten inter- 
essieren. Und welcher Teil der menschlichen Gesellschaften 
ist es, der vor allem unser Interesse erregen muß? Über diesen 
Punkt gibt es zwei einander entgegenstehende Denkweisen. 
Die Soziologie hat sich in ihren Anfängen im Anschluß an 
Auguste Comte hauptsächlich mit den höheren Gruppen- 
bildungen der Menschen befaßt. In ihren Augen hatte eigentlich 
nur das Abendland Anspruch auf Beachtung. Die Soziologie 
von heute dagegen lenkt ihre Aufmerksamkeit gerade in der 
entgegengesetzten Richtung. Für die Durkheimsche Schule, 
die hier hauptsächlich auf den großen englischen Anthropologen 
und Folkloristen fußt, stehen die primitiven Völkerschaften in 
erster Linie. Beiden Richtungen fehlt es nicht an ernst zu 
nehmenden Argumenten. Durkheim ist der Ansicht, daß man 
die Formen der menschlichen Einrichtungen in ihrer ursprüng- 
lichen Gestalt kennen muß, um ihre spätere Entwicklung ver- 
stehen zu können. Das ist tatsächlich unbestreitbar. Comte 
würde jedoch dagegen eingewendet haben, daß es nutzlos ist, 
sich auf das Prähistorische zu beschränken und daß die Mensch- 
heit von der Soziologie eine gründliche Erforschung ihres gegen- 
wärtigen Zustandes zum Zwecke einer rationellen Vorbereitung 
und Organisation ihres zukünftigen Zustandes fordert. Ich 
halte auch diese Auffassung für wohlbegründet. Die Wahrheit 
scheint mir darin zu liegen, daß diese beiden entgegengesetzten 
Auffassungen, um mit Leibniz zu sprechen, »wahr sind, insoweit 
sie bejahen, falsch, insofern sie verneinent. Es handelt sich 
darum, sowohl die Anfänge, als auch die gegenwärtigen Formen 
der menschlichen Gesellschaften zu erforschen. Aber meiner 
Ansicht nach ist das Studium der jetzigen Zustände frucht- 
bringender. Hier ist der Stoff reichhaltiger, vielgestaltiger und 
bedeutungsvoller. Er besitzt auch größeren praktischen Wert 
und überdies sind seine Ergebnisse zuverlässiger. Denn die 
Gegenwart läßt sich erkennen, die Vergangenheit kann nur 
künstlich rekonstruiert werden. Vor allem jedoch entspricht die 
Gegenwart unmittelbar unserem Verständnis, die darin Lebenden 
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