Full text: Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung

und Winterweidewanderung der Frühkulturlandschaft, den- 
selben Widerspruch zwischen der Grenzverlegung auf dem 
Papier und in der Landschaft. Treffend weist z. B. Baerlein in 
„A difficult Frontier“ (London 1922) nach, wie praktisch un- 
möglich die jetzige Grenzführung zwischen Albanien und dem 
Südslawenstaat am weißen Drin ist, wie hier gewohnte Raub- 
strecken nur zum Vorteil italienischer Drahtzieher verlegt 
worden seien. Im Dezember 1926 sehen wir diese Gefahrenstelle 
neu aufleben. Ähnliche barg der Wasgenwald (Münstertal!) 
und das Wallis. 
Wertvoll für unsere eigene Vorstellungskraft gegenüber ge- 
wachsenen und kulturlandschaftlich gewordenen Grenzen einer- 
seits und künstlich gemachten andererseits ist es, wenn wir 
solche Unterschiede etwa an Tieferlegungen von Seen und 
Flußläufen aufsuchen, wo sie sich nah genug im engeren 
Vaterlande bieten (Chiemsee-Tieferlegung, Rheineingrabung). 
Hier zeigt sich leicht, was man unter Kulturgleichgewichts- 
zuständen, in Jahrhunderten erwachsen, im Gegensatz zu 
labilen Grenzflächen, was man unter Übergangsfilter, unter 
ausgewirkten oder noch latenten Grenz-Zuständen verstehen 
kann. 
Eine dem dichten Volksdruck Mittel- oder Innereuropas 
fast fremd gewordene Erscheinung ist der Vorbau, das Ver- 
schieben von Grenzen ins neu zu gewinnende, zu kultivierende 
Land: jene Arbeit, an der die Feldmesserkunst, die Städtebau- 
praxis der Vereinigten Staaten erwuchs, an der ein George 
Washington sich in seiner J ugend schulte. Eher noch kommen 
wir in Mitteleuropa leider in die Lage, Rückbildungen zu 
beobachten, wie denn unsere deutsche Grenze fast überall 
Rückzugsstadien zeigt, bei denen man zuweilen biologisch an 
das eingezogene Narbengewebe, den seewärts weggerieselten 
Ebbestrom mit seinem Rücklaß, den in die Alpen zurück- 
weichenden Gletscher denkt. Selbst Namen wie England, Frank- 
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