Versuchen wir, die Fülle der Einzelerscheinungen von Mög-
lichkeiten zur Erziehung des Grenzgefühls in Gruppen zu-
sammenzufassen, so erkennen wir vorweg als höchste Gefahr,
die zur Unfruchtbarkeit in der einen Richtung führt, eine zu
scharfe Definition, das einseitig juristisch und historisch retro-
spektiv betonte Sehenwollen der Grenze, jede Haarspalterei,
jedes Liniensuchen um jeden Preis, als eine den Gesetzen des
Lebens auf der Erde widerstrebende, daher zu Mißerfolgen
biologischer Art verurteilte Einstellung. Vor ihr muß besonders
gewarnt werden, weil sie — eben aus zu viel Gerechtigkeit, pedan-
tischer Wahrheitsliebe und auch wohl Rechthaberei — gewissen
geisteswissenschaftlichen Neigungen gerade in Mitteleuropa
entspricht und ihre Anhänger vor lauter Analyse gar nicht
mehr zum Aufbauen kommen läßt.
Man muß aber in der Praxis der Erziehung zum Grenz-
gefühl die Grenzsäume sehen, die Übergänge erkennen und
ihnen Rechnung tragen, wie auch der Atmosphäre, der Luft-
stimmung, die ihre Ränder, ihre klaren Umrisse umfließt. Das
besorgt im politisch-geographischen Bilde des Gegeneinander-
stehens staatlicher und völkischer Lebensformen, von Kultur-
kreisen und Wirtschaftsgebilden, die sich gegeneinander ab-
zugrenzen haben, die Grenzphraseologie, eine Form des poli-
tischen „Cant“.
Es ist bezeichnend, daß die Inselvölker mit ihrer mehr sinn-
fällig empfundenen Atmosphäre dieser Tatsache so vielleichter
Rechnung tragen, als Kontinentalvölker, die Farbe gegen Farbe
schärfer abgesetzt, Kante gegen Kante viel härter sehen. (Man
braucht nur an Bilder von Turner, Whistler, aber auch von
japanischen Malern oder von Frühchinesen der Küstenland-
schaften zu denken!)
Die anders geartete „breite“ russische Seele hat sich diese
fließende Grenzanschauungsweise, vielleicht aus der nordischen
Waldatmosphäre heraus bewahrt: sie ist mehr Podsjol- als
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