52. Abgrenzung der Aufgabe. Kennzeichnende Merkmale des öff, Kredites. 481
$ 2. Abgrenzung der Aufgabe. Kennzeichnende Merkmale des öff, Kredites
der Vergangenheit.
Der Darstellung, welche in diesem Handbuch die Theorie (vgl. den folgenden Bei-
trag von M. R. Weyermann) und die Technik (vgl. den Beitrag von Gaston Jeze)
des Öff. Kredites erfahren, liegen dessen moderne, seit Mitte des 18. Jhs. ent-
wickelte Gestaltungen zugrunde. Demgegenüber besteht die Aufgabe des vorliegenden
Beitrages in der Darstellung des historischen Verlaufes, in dessen Folge und als dessen
Ergebnis die Phänomene des modernen Öff. Kredites sich herausgebildet haben.
Auch diese Darstellung muß systematischen Charakter tragen; denn der Versuch, die
geschichtliche Entwicklung in den einzelnen Ländern Europas gesondert zu erfassen,
würde den Rahmen dieses Handbuches bei weitem übersteigen, und die Aufgabe einer
Geschichte „‚des‘“ öff. Kredites besteht ihrer Natur nach in der Kennzeichnung der
allgemeinen, nicht der besonderen Züge, in der Herausarbeitung der idealtypischen,
nicht der lokal wechselnden Entwicklungsreihen. Daß hierbei Zahlenangaben, trotz
der Fülle des vorliegenden Zahlenmaterials, selbst illustrativ nur selten verwendet
werden, ist durch methodische Bedenken zwiefacher Art hinlänglich erklärt: die säku-
laren Veränderungen des Geldwertes schließen die Verwendung der rohen Zahlen für
einen historischen Längsschnitt aus, und das bei jeder historischen Statistik sich stel-
lende Problem des Maßstabes ist bei allen Zahlenangaben über Beträge der öffentlichen
Schuld um so schwieriger zu lösen, als in den Jahrhunderten, die weder einheitliche Etats
noch ein zentralisiertes Kassenwesen kannten, meist auch die Möglichkeit nicht be-
steht, die Bedeutung einer Schuldsumme im Verhältnis zu den Größen der gesamten
Finanzwirtschaft zu bestimmen.
Da die modernen Formen des öff, Kredites im wesentlichen um die Wende
des 18. zum 19. Jh. ausgebildet sind, findet auch die vorliegende Darstellung mit
diesem Zeitpunkte ihren natürlichen Abschluß. Ihr Beginn fällt mit der wirtschaftlichen
Revolution zusammen, welche mit der stärkern geldwirtschaftlichen Durchsetzung der
Finanzen und mit den Anfängen der Städteblüte einsetzt und in Deutschland etwa zu
Beginn der Stauferzeit vollentwickelt sichtbar wird. Der systematischen Betrachtung
der Entwicklung während dieses Zeitraumes sei eine Charakteristik der Unterschiede
vorausgestellt, welche den öff, Kredit des Stadtstaates, des Ständestaates. und des
absolutistischen Staates in den Jahrhunderten feudaler und frühkapitalistischer Wirt-
schaftsverfassung vom Öff. Kredit der modernen Nationalstaaten im Zeitalter des
Hochkapitalismus trennen. Diese Unterschiede können in der Hauptsache unter vier
Gesichtspunkten zusammengefaßt werden.
1. Wiewohl der Inhalt des Begriffes „außerordentlicher Bedarf‘ (vgl. Handbuch,
I. Bd. S. 322, 470) und dementsprechend auch die Bestimmung der Voraussetzungen
zulässiger Inanspruchnahme des öff. Kredites bis heute kontrovers sind, so besteht
in der Theorie sowohl wie in finanzpolitischer Praxis weitgehende Einigkeit darüber,
daß bei einzelnen Bestandteilen’des Finanzbedarfes, aber auch nur bei diesen, die von
den meisten Autoren nach den Verwendungszwecken (vgl. nachstehend Weyermann
S. 527 ff.), von anderen nach dem Moment der Nichtperiodizität, von wenigen nach der
formellen Stellung im Finanzplan bestimmt werden, Deckung durch das Mittel des öff.
Kredites zulässig, ja unter Umständen zur bessern Verteilung des Bedarfes in der Zeit
geradezu geboten ist („ein Staat ohne Schulden fordert zu viel von seiner Gegenwart oder
leistet zu wenig für seine Zukunft‘, L. v. Stein). Durch diese Verknüpfung einer bestimm-
ten Art der Mittelbeschaffung, Anleihensweg, mit einer bestimmten Kategorie des
Finanzbedarfes, außerordentlicher Bedarf, ist der öff. Kredit in die Gesamtstruktur der
modernen Finanzwirtschaft systematisch eingegliedert. Grundverschieden hiervon gilt
er bis um die Wende vom 18. zum 19. Jh. nicht als reguläres Mittel zur Deckung des
außerordentliches Bedarfes, sondern als in ganz anderm Sinne „außerordentliches‘‘, im
Rahmen einer gesunden Finanzwirtschaft im Grunde ungehöriges Deckungsmittel;
er ist nur toleriert als Not- und Verlegenheitsausweg, dessen sich die Finanzverwal-
tung ohne irgendwelche Beziehung zur Art des Bedarfes bedient, und dessen Benützung
durch Hinweis auf ganz exzeptionelle Ereignisse und Verhältnisse („pro urgentissimis
Handbuch der Finanzwissenschaft. II. 31