Der Ideengehalt der Weltwirtschaftskonferenz. 103
Der Beschreibung und der Kritik der Lage folgt endlich die Mahnung:
„Ein Volk mag aus politischen oder anderen Gründen entscheiden,daß
es für seine Sicherheit wesentlich ist, sich stärker auf Selbstversor-
gung einzustellen. Aber die Konferenz hat darauf hinzuweisen, daß
damit meist ein Opfer an materiellem Wohlstand verbunden ist. Den
Verlust tragen in solchen Fällen die Verbraucher, die für die Erzeug-
nisse der geschützten Industrie mehr zahlen, sowie die Personen, die
an denjenigen Industrien beteiligt sind, die anderenfalls größere Aus-
fuhrmöglichkeiten haben würden 1).““
Die Idee der Verbundenheit der Völker, die bisher als sittlich-kultu-
relles Postulat in der Politik einiger auserwählter Politiker eine Rolle
spielte, ist im Sinne dieser Feststellungen der Konferenz zur wirtschaft-
lichen Notwendigkeit geworden. Ihre zunehmende Verwirklichung in
der Weltwirtschaft wird auch die Konsolidierung und Pazifizierung der
politischen Beziehungen mit sich führen.
I. Die Idee der Handelsfreiheit
ist das einzige wirtschaftspolitische Prinzip, das in die Satzung des
Völkerbundes (Art. 23) Eingang gefunden hat. Sie ist dahin aus den
vierzehn Punkten Wilsons in etwas verwässerter Form übergegangen.
Die ursprünglichen wirtschaftlichen Grundzüge, die Wilson zum Aus-
druck brachte, entsprachen in vielen Beziehungen den Forderungen der
englischen Freihandelsschule, die Richard Cobden zu Mitte des vori-
gen Jahrhunderts erhoben hat. Sie waren nicht neu, erhielten aber eine
erhöhte Bedeutung dadurch, daß das Oberhaupt des mächtigsten Ge-
meinwesens sie zur Grundlage des kommenden Friedens machte. Der
dritte der vierzehn Punkte vom 8. Januar 1918 verlangte: „Beseitigung
aller wirtschaftlichen Schranken, soweit sie möglich ist, und Herstel-
lung gleicher Handelsbedingungen unter allen Staaten, die sich dem
Frieden anschließen und sich zu seiner Aufrechterhaltung vereinen.‘
Es sollte damit der Grundsatz der Gleichberechtigung aller Völker in
allen Ländern ein für allemal zum Durchbruch kommen.
Die heißersehnte Verwirklichung dieses Gedankens ist an den Be-
dingungen der Friedensverträge gescheitert und durch die Prohibi-
tionspolitik der Nachkriegsjahre in ihr Gegenteil verwandelt worden.
Der Völkerbund hat sich mit den Fragen der Handelsfreiheit bisher
nicht in entsprechendem Maße befaßt, weil er davon den Vorwurf
eines Eingriffes in die Hoheitsrechte seiner Mitglieder befürchtete.
Jetzt ergeht die Aufforderung an ihn, diese Angelegenheiten in den
Kreis seiner Aufgaben zu ziehen. Die Weltwirtschaftskonferenz ist in
ihren Beschlüssen dem Gedanken, dem sie ihr Entstehen verdankt,
nicht untreu geworden. „Das ist der einstimmige Wunsch der Konfe-
renzmitglieder, — heißt es in der programmatischen Einleitung der
Handelsbeschlüsse — die Konferenz möge gewissermaßen den An-
1) Ebenda: Kritik der Handelspolitik,