132 6. Abschnitt, IL
Grund abgeben, um die Jahrhunderte alte wirtschaftliche Gemeinschaft
einfach auszuwischen.
Auf dem Gebiete des wirtschaftlich verbündeten Mitteleuropa sind
Mittel- und Kleinstaaten entstanden, die sich voneinander abschließen,
an deren Grenzen Paßzwang, Zollrevision, Warenfeststellungen, Aus-
fuhr- und Einfuhrverbote, Schmuggel usw. den einst blühenden wirt-
schaftlichen Verkehr vollständig zugrunde gerichtet haben. Was dieser
Rückfall zahlenmäßig bedeutet, dafür gibt uns die Völkerbundstatistik 1)
nur einen annähernden Begriff, obzwar sie einen dunklen Schatten auf
unseren Erdteil wirft,
Der Handel Mitteleuropas beträgt im Jahre 1924 noch um 30% weni-
ger als im Jahre 1913, im Jahre 1925 hat er sich infolge außerordentlich
günstiger Ernten zwar gebessert, aber schon im Jahre 1926 stehen wir
in einigen Ländern wieder einem Rückgange des Handelsvolumens?)
und einer Erhöhung des Handelspassivums?}) gegenüber. Diese Tat-
sachen haben auf die Weltwirtschaftskonferenz einen gewissen Ein-
iruck gemacht, der Eindruck war aber nicht tief genug, wenn man die
wirkliche Lage erkennt und in Betracht zieht.
Denn der Außenhandel der Vorkriegszeit ist mit dem.heutigen Handel
in Mitteleuropa inkommensurabel. Die österreichisch-ungarische Monar-
chie war innerhalb ihrer umfassenden Zollgrenzen auf einen Handels-
verkehr nach außen in viel geringerem Grade angewiesen. Was früher
in allergrößtem Maße Binnenhandel war, ist jetzt zum Außenhandel ge-
worden infolge der vielen tausend Kilometer neuer Zollgrenzen, die ge-
zogen wurden. Will man die wirkliche Lage von Mitteleuropa erfassen,
so kann man sich nicht auf die Produktion der Nahrungsmittel und auf
das Volumen des Außenhandels beschränken, sondern hat von dem
Konsum und von der Industrieerzeugung auszugehen. Eine Untersu-
chung über den Konsum würde ergeben, daß die große Masse der Be-
völkerung in den wichtigsten Zweigen ihrer Bedarfsdeckung weit, unter
den alten Stand der Lebenshaltung herabgedrückt ist. So ist der
Fleischverbrauch in Mitteleuropa fast überall auf die Hälfte der
?) Memorandum sur la production et le commerce, Societe des Nations, 1926,
*) Der Rückgang des Handelsvolumens ist allerdings keine besondere mitteleuro-
päische, sondern eine gesamteuropäische Erscheinung. Nach den zur Zeit verfügbaren
(April 1927) Außenhandelsziffern von 16 europäischen Staaten liegt der Gesamtwert
des Außenhandels dieser Länder im Jahre 1926 um 7,5 % niedriger als im Jahre
1925. Im Jahre 1925 betrug der Gesamtumsatz 129,2 Milliarden RM., im Jahre 1926
bloß 119,4 Milliarden RM. In welchem Ausmaß der Rückgang des Außenhandels auf
die. Preisrückgänge zurückzuführen ist, läßt sich ziffernmäßig genau nicht feststellen.
Dagegen zeigen die Außenhandelsziffern der außereuropäischen Länder trotz der Preis-
tückgänge der wichtigsten Welthandelsartikel eine wesentliche Verbesserung. (Siehe
„Wirtschaft und Statistik‘, Märzheft 1926.)
?) Das österreichische Handelspassirum hat sich von 936 Millionen Schilling im
Jahre 1925 auf 1087 Millionen Schilling im Jahre 1926 erhöht, das ungarische Handels-
passivum von 39,6-Millionen Goldkronen im Jahre 1925 auf 71 Millionen Goldkronen im
Jahre 1926. Die Handelsbilanz Jugoslawiens, .die im Jahre 1925 noch stark aktiv war,
ist. in den ersten neun Monaten 1926 mit 88 Millionen Dinar passiv geworden.