Die Entwicklung der juristischen Literatur
in der Sowjet-Union.
Von Eugen Kelmann, Kiew.
Der bekannte Ausdruck v. Kirchmann’s (Ueber die Wertlosigkeit der
jurisprudenz als Wissenschaft, 1847) — „Ein Federstrich des Gesetzgebers
— und Bibliotheken werden Makulatur‘“ — hat gewiß nie eine so er-
schütternde Verwirklichung gefunden, wie im ehemaligen Rußland nach der
Oktoberrevolution des Jahres 1917. Mit dem gewaltigen Sturze der
herrschenden sozialen und politischen Ordnung wurde das ganze im
Laufe von Jahrhunderten entstandene Rechtssystem in einem Augenblick
außer Kraft gesetzt. In ihrem Drange nach Neuem und ihrem Hasse
gegen das bekämpfte Alte begnügte sich die Revolution nicht mit der
bloßen Schöpfung einer neuen Gesetzgebung. Das frühere Recht sollte
vollständig gestrichen und zerstört werden. Keine Kontinuität, keine
Nachfolgerschaft! Die neue Rechtsentwicklung beginnt mit dem
25. Oktober (7. November) 1917, mit dem Tage, an dem die neue Sowjet-
regierung die Staatsgewalt in ihre Hände nahm. In dem Gesetze „Ueber
das Volksgericht der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjet-
Republik“ vom 30. November 1918 findet sich ein ausdrückliches Verbot,
die ehemaligen Gesetze zu zitieren: „Es ist verboten, sagt das Gesetz,
sich in Urteilen und Entscheidungen auf die Gesetze der gestürzten
Regierungen zu berufen‘ (8 22, Anm.).
Denselben Gedanken äußert 4 Jahre später das Zivilgesetzbuch, das
in seinem Einführungsgesetze eine entsprechende Rechtsnorm enthält:
„Die Auslegung dieses Gesetzbuches auf der Grundlage der Gesetze
und der Praxis der vorrevolutionären Gerichte ist verboten‘ ($ 5 des
Einführungsgesetzes). Es liegt auf der Hand, daß die gesamte mannig-
Faltige russische Rechtsliteratur, die vor der Revolution existierte, bei
solch einem prinzipiellen Standpunkte der Gesetzgebung ihre praktische
Bedeutung fast vollständig verlieren mußte. Die alte Literatur war also
plötzlich entwertet, und erst allmählich sprießen auf dem zerstörten
Boden die jungen Halme einer neuen durch die Revolution erzeugten
Rechtsliteratur hervor.
Die ersten Jahre, die auf die Oktoberrevolution folgten, waren der
Entwicklung einer Rechtsliteratur wenig günstig. Es herrschte im Lande
ein heftiger Bürgerkrieg. Der neue Staat hatte mit größter Kraftan-
strengung um sein Dasein zu kämpfen. Dabei waren die Rechtsfragen