Full text: Die Führerfrage im neuen Deutschland

214 
mit an dem vorstaatlichen Erwachen der Arbeiterbewegung in Deutschland. 
Während in den anderen westlichen Staaten, insbesondere Frankreich und 
England, die Arbeiterbewegung entstand, als die nationale Staatsidee 
schon das ganze Volk samt den Arbeitermassen in ihren Bann gezogen 
hatte, begann das Erwachen des vierten Standes in Deutschland lange vor 
der Gründung des Deutschen Reiches. Der englische Arbeiter war also erst 
Engländer und dann Arbeiter, während die deutschen Arbeiter schon klassen— 
mäßig empfanden, als sie in den Nationalstaat eingegliedert wurden. Es 
ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig, festzustellen, daß die moderne 
Kaufmannsgehilfenbewegung erst in den NOer Jahren entstand und deswegen 
schon eine andere Ideologie erhalten mußte. 
Das Vorwiegen des Klassenempfindens bereitet bis auf den heutigen 
Tag dem Eingang nationalstaatspolitischer Gesinnung bei den organisierten 
Arbeitern schwere Hindernisse. Daß sich das bisher nicht änderte, liegt aller⸗ 
dings sehr stark an dem Verhalten der herrschenden Schichten des alten 
Regimes gegenüber den aufsteigenden Schichten des vierten Standes. Das 
ist unser Hauptunglück, denn ohne nationalstaatspolitisch erzogene Führer⸗ 
schicht ist dauernde staatspolitische Führung nicht möglich. Ohne ein ethisches 
Ziel, irgendeinen Glauben, in dessen Dienst man sein Streben stellt, gibt es 
überhaupt keine Führung. 
Da aber die Mehrheit der Führerschaft der Arbeitermassen in der reinen 
Klassenideologie und in der materialistischen Gedankenwelt stecken geblieben 
ist, kann sie den Staat nicht dauernd verantwortlich führen, weil sie den 
Massen ihr Verhalten nicht klarmachen kann. Verantwortliche Staats⸗ 
führung bedeutet immer Ausgleich der Interessen, Kompromisse um der Ein— 
heit willen, infolgedessen zeitweise auch Verstoß gegen das, was vom reinen 
Interessenstandpunkt unbedingt für nötig gehalten werden muß. Das kann 
man nur begründen mit der Idee des Nationalstaates, denn eine politisch 
taktische Begründung hält gegenüber einem staatspolitischen Unverständnis 
der Massen nur kurze Zeit vor. Nur eine breite Führerschicht, die von der 
Notwendigkeit des nationalen Gemeinschaftsstaates innerlich überzeugt ist, 
kann es fertigbringen, den Massen auch die Notwendigkeit des zeitweiligen 
Verzichtes auf große Programmforderungen begreiflich zu machen. Eine 
Volksschicht, die regieren will, muß sich über die damis verbundene An— 
erkennung von Staatsnotwendigkeiten klar sein. 
Der Massenführer, wenn er eine verantwortliche Staatsführung über⸗ 
nimmt, ist daher in den meisten Fällen in der unangenehmen Lage, entweder 
seine Popularität zu verlieren und seiner Partei zu schaden, oder gegen den 
Gemeinschaftsgeist und damit gegen das Staatsinteresse zu verstoßen. Diese 
Erwägungen hemmen sehr stark den Willen und die Bereitwilligkeit der 
Arbeitnehmerschicht, die Staatsverantwortung führend oder mitführend zu 
übernehmen; immer bleibt latent die Oppositionsstellung zum selbstgeschaffenen 
Staat im Vordergrund der Stimmung. Die Sozialdemokratie isi aus dieser 
Ursache schon mehr als einmal am eigenen System machtpolitisch gescheitert. 
Allerdings ist diese Haltung und der Mangel staatspositiver Entwicklung 
in weiten Arbeitnehmerschichten im wesentlichen eine Folge der klassen⸗— 
gerichteten Einstellung des Unternehmertums und des Mangels wahrhaft 
nationaler Gesinnungskraft bei der Bourgeoisie. Die Arbeitnehmer finden 
auf der bürgerlichen Seite — und sie haben dafür ein scharfes Auae
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.