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„ein dem Einzelnen unfühlbares Gesetz der Natur zur Ausführung
gelangt.“
Man kann vielleicht sagen, daß in gewisser Beziehung die
anthropologisch-kriminalistische Schule, die namentlich in Italien
Anhänger hatte, das Erbe Quetelets angetreten hat. Nicht zum
mindesten gilt dies von Lombroso (1836—1909) mit seinem Werk
L’uomo delinquente (1871—1876). Er sucht zu zeigen, daß das Ver-
brechen als „notwendige Naturerscheinung“ zu betrachten ist, daß
der Verbrecher gewisse „typische Rasseneigentümlichkeiten“ hat, die
an den Mongolen erinnern und sich morphologisch im Schädel- und
Gesichtsbau, im Haarwuchs usw. aussprechen. Diese Theorien
wurden einer im ganzen beistimmenden Kritik von Ferri unter-
worfen, welcher namentlich zu beweisen suchte, daß die vielen Merk-
male, welche Lombroso sämtlichen Verbrechern zugeschrieben hatte,
nur einzelnen Gruppen derselben, wie Räubern und Raubmördern,
zukämen.
Diese naturalistische Schule verneint die Willensfreiheit und
betrachtet die Auffassung der positiven Philosophie über diese Frage
als durch die Statistik bestätigt. Das Strafrecht wird dann einfach
als eine „notwendige Konsequenz des der menschlichen Gesellschaft
zustehenden Rechtes der Selbstbehauptung“ begründet, und das Schwer-
gewicht muß auf vorbeugende Maßregeln, wie die Bekämpfung der
Trunksucht, die Überwachung der Prostitution und den Schutz der
Arbeiter, gelegt werden.
Als Statistiker waren die Mitglieder dieser Schule im wesent-
lichen nur Dilettanten. Lombrosos anthropologisches Material hat
wegen des ihm fehlenden statistischen Verständnisses oft nur geringe
Beweiskraft. Die Zahlen sind vielfach so klein, daß die Kriterien
der Wahrscheinlichkeitsrechnung keine Anwendung finden können.
Lombroso teilt z. B. die Ergebnisse einer Untersuchung über 50 Sträf-
linge mit, welche bei 8 Proz. (also im ganzen 4 Individuen) Stra-
bismus, bei 1 Proz. flache Stirn ergabl). Seine statistischen Be-
trachtungen über die Vitalität der Sträflinge waren völlig wertlos.
Die naturalistische Auffassung begegnete lebhaftem Widerstande,
nicht zum mindesten von seiten deutscher Statistiker. Zu diesen
gehörte der Theologe Alex v. Oettingen, dessen großes Werk
„Die Moralstatistik“?) oben genannt wurde und als Kompendium
') Vgl. die französische Ausgabe des L’uomo delinquente: L’homme erimi-
nel, 1887, S. 320 ff.
°) Erste Ausgabe 1868 —1873, die dritte 1882.
Westergaard und Nybolle, Theorie der Statistik, 2. Aulfl.