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411. Kapitel.
Ist nun „Streben“ ein Seelenaugenblick, in welchem um „eigenes
gegenwärtiges Wirken kraft eigenen Wollens“ gewußt ist, so liegt
eine Verwechslung solchen Seelenaugenblickes mit dem Seelenaugen-
blicke „Wollen“ ‚sehr nahe, da, wie wir gesehen haben, auch „Wollen“
ein Seelenaugenblick ist, in welchem um eigenes Wirken kraft eigenen
Wollens gewußt ist, aber eben um „eigenes zukünftiges Wirken kraft
eigenen Wollens“. Es weiß eben der „Wollende“, daß sein Wollen die
wirkende Bedingung in eigenem Wirken abgeben wird, hingegen
weiß der „Strebende“, daß sein Wollen die wirkende Bedingung‘ in
eigenem Wirken abgibt: „Ich will tätig sein“ und „Ich bin tätig“,
aber in jedem dieser beiden Fälle finde „Ich“ mich in einem anderen
Seelenaugenblicke, einmal nämlich als „Wollenden“, das andere Mal
als „Strebenden“, also das eine Mal als Seele, die um ihr zukünf-
tiges Wirken weiß, das andere Mal als Seele, die um ihr gegen-
wärtiges Wirken weiß. Deshalb unterscheidet auch die Sprache genau
den „Tätig-Sein-Wollenden“ vom „auf Grund jenes Wollens Tätigen“.
„Ich will tätig sein“ bringt ein anderes Wissen zum Ausdrucke als „Ich
bin tätig“ und diese sprachliche Unterscheidung stützt sich auf einen
unbezweifelbaren Unterschied, welchen das Selbstbewußtsein in seinem
Gegebenen findet, das einmal ein Seelenaugenblick „Wollen“, das andere
Mal aber ein Seelenaugenblick „Streben“ ist. Wer etwa arbeitet, ant-
wortet auf die Frage: „Was tun Sie da?“ mit den Worten: „Ich arbeite“,
nicht aber mit den Worten: „Ich will arbeiten“. Niemand bezeichnet
sein gegenwärtiges Tun mit Worten, welche ein Wollen jenes Tuns
bezeichnen und wir würden jenen, der trinkt, verwundert ansehen, wenn
er sagen würde: „Ich will trinken“, „Wollen“ und „Tun“, also auch
„Streben“ sind zwei verschiedene Gegebene, und deshalb sagt man in
zahlreichen Fällen, es sei beim Wollen „geblieben“ und „nie zur Tat
gekommen“.
Wenn aber „Streben‘‘ das Bewußtsein „eigenen gegenwärtigen
Wirkens auf Grund Wollens‘‘ ist, so erhebt sich zunächst die Frage,
was in solchem Seelenaugenblicke eigentlich gewußt ist. Wir haben
gesehen, daß ‚„‚Wollen‘“ ein Seelenaugenblick ist, in welchem eine Seele
weiß, daß ein ihr gegenwärtig zugehöriges besonderes Begehren, näm-
lich eine Unlust, und der Gedanke, daß Beseitigung dieser Unlust mit
Gewinn von Lust durch besonderes eigenes Tun möglich ist, die wir-
kende Bedingung in solchem künftigen eigenen Tun abgeben
wird. Wir haben auch festgestellt, daß also der Wollende eigentlich
weiß, daß dieses sein gegenwärtiges Begehren die wirkende Be-
dingung in künftigem eigenen Tun abgeben wird. Im Gegensatze zum
„Wollen‘‘ stellt nun aber das „Streben“ einen Seelenaugenblick dar,
in welchem eine Seele weiß, daß ein ihr gegenwärtig zugehöriges be-
sonderes Begehren, nämlich eine Unlust, und der Gedanke, daß .Be-