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Kulturerscheinung immer besser erkannt werde: der Gegenstand, der
erkannt wird, ist ja immer ein anderer. Und es kann leicht kommen,
daß die Tiefe der Erkenntnis in einer früheren Zeit größer war als
später, weil die erkennenden Geister tiefer in die Zusammenhänge
hineingeschaut haben. Wenn wir unsere Wissenschaft z. B. ansehen,
so ist der Gedanke vermessen: wir wüßten heute von den Zusammen-
hängen des Wirtschaftslebens mehr als die Generation „um 1750“,
und die Arbeiten von Cantillon über den Handel, von Galiani über
die Getreidezölle, von Hume über den Geldwert, von Law und Pinto
über Kredit, von Justus Möser über Bauernwirtschaft usw. ent-
hielten weniger tiefe Erkenntnis als etwa die einschlägigen Artikel im
„Handwörterbuch der Staatswissenschaften‘“ (von dem Mehr an Sta-
tistik abgesehen).
Deshalb läßt sich das Ergebnis der Arbeit in den Geistwissen-
schaften nur in sehr beschränktem und übertragenem Sinne quanti-
fizieren und im Bilde der Anhäufung, der Vermehrung, des „Fort-
schritts‘“ vorstellen. Allenfalls kann man von einem F ortschritt hier
sprechen, wenn es sich um das Erschließen eines neuen bisher un-
bekannten Sinnzusammenhangs handelt: wenn man etwa die Keil-
schriftsprache oder die Gesetzbücher Hamurabis oder die Turfan-
Kullur ganz neu „entdeckt“ oder anfängt, sie zu entziffern. Einen
Fortschritt kann man es auch nennen, wenn neues Material er-
schlossen oder das Begriffssystem vervollkommnet oder neue Tech-
niken ausgebildet werden, die das Verstehen eines bekannten Sinn-
zusammenhangs erst ermöglichen oder erleichtern.
Daß hier zunehmende Kompliziertheit nicht mit „Fortschritt“ ver-
wechselt werden darf, wie es häufig geschieht, habe ich bereits gesagt:
siehe oben Seite 302 ff.
Aber diese „Fortschritte‘“ machen den Entwicklungsgang keiner
Geistwissenschaft, auch der Nationalökonomie nicht, aus. Es ist
ebenso abwegig, eine Dogmengeschichte der Nationalökonomie unter
dem Gesichtspunkt des Fortschritts, „seit Quesnay den Kreislauf
des Wirtschaftslebens entdeckt hatte‘, bis zu den ruhmvollen Lei-
stungen der heutigen Generation zu schreiben, wie es vermessen ist,
die Geschichte der Philosophie als eine Reihe von Fortschritten der
Erkenntnis von Plato bis Cohen zu betrachten oder die Geschichte