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lange das Gebot der christlichen Liebe allein
noch hinreichte, das Loos der Dürftigen zu erleichtern,
so lange fromme Stiftungen und die Spenden der Klöster
und Kirchen ein genügendes Asyl für die Armuth dar
boten, blieb dem Staate die Sorge für diese Unglück
lichen fremd. Als aber die zunehmende Bevölkerung
der Länder, die gesteigerten Bedürfnisse ihrer Einwohner
und die erhöhte Civilisation auch die Classe Derer ver
größerte, welche ohne die hülfreiche Hand ihrer christ
lichen Brüder sich das, was daS Leben erforderte, nicht
zu verschaffen im Stande waren; als Religion und Men
schenliebe nicht mehr die Herrschaft behielten, um die
Opfer, welche die Wohlthätigkeit brachte, auf gleicher
Höhe mit den Bedürfnissen der Armuth zu erhalten; als,
durch die Reformation herbeigeführt, die Klöster und
Kirchen aufhörten, eine Zufluchtstätte der Dürftigen zu
sein, und die überhandnehmende Bettelei Gesetze wider
das Bettelwesen hervorrief; da mußte sich der Staat
auch andererseits verpflichtet fühlen, das Gesetz mit der
Menschlichkeit zu versöhnen, das Werk der christlichen
Liebe zu übernehmen und die Sorge für das Schicksal
der Armen zu einem Zweige seiner öffentlichen Verwal
tung zu machen, wenn er sich nicht in seiner Eristenz
gefährdet sehen wollte. So entwickelte sich fast überall,
wo wir sic antreffen, die gesetzliche und die öffentliche
Armenpflege. Aber je mehr sich diese entwickelte, desto
mehr lockerte sich jenes schöne Band, durch welches die
aus christlicher Liebe hervorgegangene Privatmildthätigkeit,
hier durch Liebe und Theilnahme, dort durch Anhäng
lichkeit und Vertrauen, die Armuth an den Wohlstand
geknüpft hatte. Man fing nur allzubald an, die Sorge
für den Dürftigen als eine dem Staate allein und von
Rechtswegen obliegende Verpflichtung anzusehen, und er-