Full text: Die Tarifreform von 1879

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Pflicht, den unausbleiblichen Kampf des alten und neuen 
Systems loyal zu führen, ihn nicht durch Aufreizung oder 
Uebertreibung zu verschärfen. Wir haben schon mehrmals 
Veranlassung genommen, den falschen Anschauungen und Ueber- 
treibungen entgegen zu treten, welche die meisten parlamen 
tarischen und publizistischen Vertreter beider handelspolitischen 
Schulen sich bezüglich des Einflusses der Tarifgesetzgebung 
zu Schulden kommen lassen. Die Tarife sind wesentliche 
Koefficienten im wirthschaftlichen Leben der Völker, sie können 
viel schaden und nützen; allein ein Land verarmen machen, 
seinen Ruin herbeiführen, wie Schutzzöllner und Freihändler 
so freigebig vom entgegengesetzten System behaupten, — das 
können sie nicht. Wer nicht vom Parteigeist geradezu ver 
blendet ist, der muss einsehen, wie alle Kulturländer ohne 
Ausnahme, trotz der entgegengesetztesten Tarifsysteme, trotz 
der schroffsten Wechsel hierin, unablässig vorwärts schreiten. 
Nur gewaltsame Störungen, wie z. B. ein grosser Krieg, können 
das Vermögen eines Landes momentan verringern, nicht das 
blosse Walten der wirthschaftlichen Kräfte, wenn auch noch 
so sehr durch Tarife eingeengt oder beeinflusst. Selbst die 
Krisen machen hierin nur anscheinend eine Ausnahme; der 
Reichthumsfortschritt steht nicht still, er wird nur zeitweise 
latent. Die Tarifsysteme sprechen also bei dem Tempo des 
Reichthumsfbrtschritts eines Volkes wesentlich mit, und jede 
Partei behauptet, dass ihr System das förderlichste sei. Allein 
sie vermögen erfahrungsmässig nicht einmal den Reichthums 
fortschritt zum Stillstand zu bringen, geschweige denn ihn in 
Rückschritt zur Verarmung umzukehren. Kann eine einsame 
Insel im Weltmeer, von aller Welt abgeschlossen, nicht eben 
falls, wenn auch langsamer, freudloser und mühsamer im Wohl 
stand fortschreiten? 
Der Tarifaberglaube war insbesondere der Vater der 
„Motive“ zum Tarifgesetz. Jeder konstatirte Fortschritt oder 
Rückgang des Ganzen, wie der einzelnen Gewerbe, wurde dog 
matisch auf die Tarifsätze zurückgefUhrt, und der weit überwie 
gende Einfluss natürlicher Produktionsbedingungen und äusserer 
Einwirkungen, der Konjunkturen und der subjektiven Faktoren 
blieb unberücksichtigt. Hier gerade, wo sich die neue Schule
	        
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