Full text: Die Tarifreform von 1879

12 
Zeichen niedergeschrieben, ohne sie indess bedingungslos zu 
vertreten. Der Abfall der Grundbesitzer vom Freihandelsprinzip, 
unter der Bedingung, dass künftig auch ihnen Schutzzölle ge 
währt würden, hat im Wesentlichen zu der Umkehr von 1879 
geführt. Allein hieraus ohne Weiteres auf bloss egoistische 
Motive schliessen zu wollen, das hiesse doch alle jene, bei 
diesem grossen Abfall mitwirkenden und treibenden Umstände 
übersehen, aus welchen wir oben bereits die Meinungsänderung 
des Fürsten Bismarck erklärten. Der deutsche Reichstag ist 
doch noch nicht ganz „veramerikanert“, wie viele meinen. Die 
allgemeine Noth läge, die man mit Zöllen bekämpfen zu können 
meinte, war auch hier das offen zu Tage liegende Motiv. Und 
nachdem Fürst Bismarck sich der Bewegung angeschlossen, 
wurde dieselbe allmählig im Volke und in den Wahlkörpern so 
mächtig, dass viele, bisher freihändlerische Abgeordnete, sich 
gegen ihre eigene Ueberzeugung in die neue Bahn gedrängt 
sahen. Auch nahm der Vorantritt der Reichsregierung in der 
Schutzzollfrage dem Auftreten der einzelnen Interessenten ge- 
wissermassen den Charakter der Selbstsucht, weil ihre Privat 
interessen von hoher Stelle, als mit dem öffentlichen Interesse 
zusammenfallend, anerkannt worden waren. Sprächen diese 
Umstände nicht mit, so dürfte man allerdings den „Mut“, 
mit dem einzelne Interessenten, namentlich Convertiten neuesten 
Datums, für ihre eigenen Zölle plaidirten, mit einem anderen 
Ausdruck bezeichnen. 
Gewiss waren es wenig erquickliche Erscheinungen, die der 
letzte Reichstag im Gebiet der wirtschaftlichen Befähigung und 
der parlamentarischen Delikatesse zu Tage förderte. Allein die 
Versammlung war nicht frei; sie handelte unter dem Eindruck 
einer unerhörten Notlage, welche Viele, die sich ihrer Un 
kenntnis auf wirtschaftlichem Gebiet bewusst waren, schon 
aus dem Grunde auf Seite der reaktionären Tarifreform trieb, 
weil sie sich sagten: „es könne gar nicht schlimmer werden; 
ein Versuch mit dem entgegengesetzten Prinzip könne somit 
vielleicht doch nützen.“ Und die Session hatte auch nicht 
bloss unerquickliche Erscheinungen, wie wir sie hier schilderten, 
sondern auch viele Beispiele der unbefangensten Auffassung, ja 
Verläugnung der Privatinteressen zu verzeichnen. So stimmten
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.