Full text: Der gesetzgeberische Ausbau des Deutschen Reiches und seine Wirtschaftlichkeitspolitik

6(3 2- Abschnitt. Grundlegung u. Ausbau der Sozial- u. Wirtschaftspolitik. 
Kleinhandel die Existenz erschweren. Was kann es für eine „Rettung" — und nur 
um eine solche kann es sich handeln — erbringen, wenn man die 70 Warenhäuser mit 
einer Sondersteuer belegt, während daneben tausende großer Detailgeschäfte, Spezial 
häuser, Filial- und Versandgeschäfte aus der Erde schießen und dem Kleinhandel die 
gleich harte Konkurrenz bereiten? 
So schwierig wie die prinzipielle Entscheidung, ebenso schwierig ist die erfolg 
reiche Durchführung eines derartigen Gesetzes. Hiebei fragt es sich: wie läßt 
sich die soziale Reform mit der Anerkennung der individuellen Entwicklung (freien 
Konkurrenz) vereinigen? Beide Prinzipien treffen sich auf dem Boden der Be 
kämpfung des unlauteren Wettbewerbs, wie sie im vorigeit Kapitel abgesteckt ist, 
sowie in der Erschließung des Feldes zu einem ausgiebigen positiven Schaffen der 
Regierung (genauer der Regierungen der einzelnen Bundesstaaten). Innerhalb eines 
derart abgesteckten Rahmens läßt sich sowohl das Protektions- als das Konkurrenz 
prinzip aufrecht erhalten. Die vielfach verbreitete Ansicht, die Quintessenz der liberalen 
Lehre von der freien Entwicklung bestehe darin, daß die Regierung allen wirtschaft 
lichen Auswüchsen gegenüber die Hände in den Schoß lege, beruht auf einem Irrtum. 
Das konnte sie wohl in England und Nordamerika bei der dortigen Grund 
stimmung des Volkes und seiner Jahrhunderte alten Erziehung zur 
Selbsthilfe riskieren, nicht aber in Deutschland, wo bis in die neueste Zeit die alt 
überkommene Arbeitsweise das landwirtschaftliche und neben den Zunst-Reminiszenzen 
das kleingewerbliche Leben beherrscht. 
Bei den geringen Aussichten auf eine wirksame Zurückdrängung der großkapita 
listischen Konkurrenz bildet für die Regierung und die Parteien die positive stetige 
Kleinarbeit, die auf eine Steigerung des Konsums und auf eine Erhöhung der 
Betriebsamkeit der Bevölkerung hinzielt, Vermehrung der Verdienstmöglichkeiten, 
Förderung der gewerblichen Arbeit, aus daß eine immer größere Zahl von Kräften 
sich an ihr beteiligen kann, Verbesserung des Warenkredits, Gründung von Ein 
kaufsgenossenschaften, Handelsrealschulen u. s. f. eine um so ernstere Pflicht. 
Seit der Abschwächung des Agrarismus und der Jnnungsagitation ist atlch 
die Mittelstandsbewegung sichtlich abgeflaut. Wohl werden von den Schutz- 
verbänden, wie seit Jahren ein paar Dutzend Forderungen gegen Warenhäuser, 
Konsumvereine, Hausierhandel, Ausverkäufe, Börse, Getreidehandel u. s. f. von 
Zeit zu Zeit an die Oeffentlichkeit hinausgegeben. Aber den Worten fehlt die 
Kraft. Denn jede Agitation wird schließlich nach den Opfern gewertet, die ihre 
Interessenten aufzubringen willens und imstande sind, sowie nach der positiven, 
stetigen und stillen Reformarbeit, die ein Fachverband leistet. Und in diesem 
Hauptpunkt fehlt es: die lautesten Rufer im Streit sind — und das ist für den 
Charakter der „Mittelstandsbewegung" bezeichnend — häufig am wenigsten geneigt, 
ihrer Sache nur die kleinsten Opfer zu bringen. So kam es, daß im gleichen Moment, 
wo die Gründung einer umfassenden Mittelstandsvereinigung, womöglich sogar einer 
eigenen Mittelstandspartei versucht wurde, die Ohnmacht der ganzen Bewegung 
nur um so greller ans Tageslicht trat. Wie bei der Arbeiterfrage liegt es im 
Interesse der Nächstbeteiligten, daß sie die neuere Entwicklung und die Existenz 
bedingungen der neuen Wirtschastsverfassung begreifen und in dieser Erkenntnis dar 
auf verzichten, die neuere Umgestaltung nach ihrem Kopf umändern zu wollen. 
Naturgemäß kann die staatliche Bevorzugung von Sonderinteressen oder eine
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.