376
X. Abschnitt. Rückblicke und Ausblicke.
Daß die deutsche Exportindustrie mit einigem Bangen, so
weit sie in Rußland ihr Absatzgebiet hat, in die Zukunft blickt, ist
begreiflich. Uns scheint aber, daß die Besorgnisse wesentlich sich ver
mindern müssen, wenn die ganze Situation unbefangen erwogen wird.
Die naturgemäße Voraussetzung für jeglichen Exportindustrialismus ist
das Vorhandensein eines breiten Bedarfs auf der Gegenseite. In Rußland
aber wird die Nachfrage nach industriellen Erzeugnissen, wenn erst
Krieg und Krisen der Vergangenheit angehören, ungemein sich steigern,
und zwar um so schneller und intensiver, je stärker und durchgreifender
die Hebel sind, welche von der staatlichen Wirtschaftspolitik zur Empor
hebung des nationalen Wohlstands in Anwendung gebracht werden.
Soweit nun bei der zukünftigen Bedürfnisbefriedigung das Ausland
überhaupt in Betracht kommt, wird das Deutsche Reich eine stetig sich er
weiternde Vorzugsstellung einnehmen. Das werden, ganz abgesehen von
der Gediegenheit, Qualität und Billigkeit der deutschen Jndustriewaren,
die durch den Handelsvertrag enger geknüpften nachbarlichen Beziehungen
mit sich bringen. Unter diesem Gesichtspunkt hat die deutsche Industrie
die beste Aussicht, ihre bisherige Suprematie nicht nur aufrechtzuerhalten,
sondern auch noch auszudehnen.
Nächstdem wird unsere Ausfuhr von der Entwicklung der
russischen Industrie abhängig sein, deren Überlegenheit auf dem reich
lichen Vorhandensein von Rohstoffen der schweren Industrie und niedrigen
Arbeitslöhnen bei langer Arbeitszeit beruht. Insoweit diese Produktions
elemente für die industrielle Konkurrenz ausschlaggebend sind, dürfte
es ratsam sein, die Aussuhrrechnungen möglichst niedrig anzusetzen,
jedenfalls sie nicht auf die Dauer und mit hohem Gewinn zu veran
schlagen. Rußland befindet sich als Schuldnerstaat, wie wir in diesem
Buche wiederholt hervorgehoben haben, schon allein aus Rücksicht auf seine
Goldbilanz unter dem Zwange ökonomischer Nötigung, seinen Übergang
vom Agrar- und Rohstoffstaat zu den höheren Stufen des Industrialismus
zu beschleunigen; es wird sich in diesem Streben weder durch Rücksichten
auf freihändlerische Theoreme, noch auf freundschaftliche Handelsvertrags
angebote, noch endlich auf die Wünsche seiner landwirtschaftlichen Erwerbs
stände beirren lassen. In bezug auf Massen- und Stapelartikel bestimmter
Gattung ist der russische Absatzmarkt für das Ausland verloren gegangen
lange ehe der neue Vertrag in Erscheinung trat. Professor Pohle ist der
Meinung, daß Deutschland im Laufe einer späteren Entwicklungsphase
des Aufschwunges der internationalen Industriezweige nicht nur seinen
auswärtigen Absatz an Metallfabrikaten und speziell Eisenwaren, sondern
auch in billigen Geweben und Kleidern, Posamenten und anderen Er-