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Mit Recht sagt Gurnplowicz' von dieser atomistischen Auffassung:
„Der Irrtum liegt darin, diese »einzelnen realen Elemente' in den
Individuen zu sehen; auch wir werden unseren Blick »auf die ein
zelnen realen Elemente richten'» doch sehen wir im sozialen Na
turprozeß nicht die einzelnen Menschen» sondern die
sozialen Gruppen als solche Elemente an."
Aber auch der einzelne handelt» von ganz primitiven Funk
tionen abgesehen» immer als Angehöriger einer sozialen Gruppe»
wie es uns Dürkheim^ so anschaulich schildert. Ganz mit Recht
sagt daher Mieser': „Selbst das Ich-Gefühl» durch das sich der
Mensch in seinem Innersten als ein von den anderen abgeson
dertes Wesen erkennt» wird durch gesellschaftliche Mächte erzogen
und erhält dadurch eine Richtung» die nicht mehr rein persönlich
ist. Das Bewußtsein hat ungezählte Einbruchspunkte» durch die es
7 Gumplowicz: Der Rassenkampf» Innsbruck 1909.
* Dürkheim: Die Methode der Soziologie. Autorisierte Über
setzung» Leipzig 1908: „Wenn ich meine Pflichten als Bruder» Gatte oder
Bürger erfülle» oder wenn ich übernommene Verbindlichkeiten einlöse» so
gehorche ich damit Geboten, die außerhalb meiner Person und der Sphäre
meines Willens, im Recht und in der Sitte begründet sind. Selbst wenn sie
mit meinen Gefühlen im Einklang stehen und ich ihre Wirklichkeit im In
nersten empfinde, so ist diese doch etwas Objektives. Denn ich habe jene
Pflichten nicht neugeschaffen» sie nur im Wege der Erziehung übernommen.
Wie oft kommt es vor» daß über die Einzelheiten der auferlegten Verpflich
tung Unklarheit herrscht» und sich» um sie voll zu erfassen» die Notwendig
keit ergibt, das Gesetz und seine berufenen Interpreten zu Rate zu ziehen.
Ebenso hat der gläubige Mensch die Bräuche und Glaubenssätze seiner Re
ligion bei seiner Geburt fertig vorgefunden. Daß sie vor ihm da waren»
setzt voraus, daß sie außerhalb seiner Person existieren. Das Zeichenshstem,
dessen ich mich bediene» um meine Gedanken auszudrücken» das Münz-
shstem, in dem ich meine Schulden zahle, die Kreditpapiere» die ich bei
meinen geschäftlichen Beziehungen benütze, die Sitten meines Berufes führen
ein von dem Gebrauche, den ich von ihnen mache» unabhängiges Leben.
Jedes Stück der Gesellschaft ist eine Wiederholung der sozialen Vergangen
heit. Überall also sind es besondere Arten des Handelns» Denkens und Füh-
lens» welche eine besondere Eigentümlichkeit darstellen» die außerhalb des
individuellen Bewußtseins existiert. Diese Typen der Lebensführung stehen
nicht nur außerhalb des Individuums, sie sind auch mit einer gebieterischen
Macht ausgestattet, kraft deren sie sich einem jeden aufdrängen» er mag
wollen oder nicht. Freilich» wer sich ihnen willig und gerne fügt» wird ihren
zwingenden Charakter wenig oder gar nicht empfinden. Der ist aber nichts
destoweniger eine diesen Dingen immanente Eigenschaft» wie sie bei jedem
Versuche des Widerstandes sofort hervortritt."
7 Wieser: Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft, im Grundriß der
Sozialökonomik. I. Abt. Tübingen 1914.