Die Macht.
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auch nicht um „Möglichkeit“ wissen. Daß es keine Antithese einer
„Welt des Seins“ und einer „Welt des Sollens“ gibt, zeigt sich schon
klar aus der Erwägung des Umstandes, daß der Satz: „Ich bin“ für
sich einen Sinn hat, hingegen der Satz: „Ich soll“ für sich keinen
Sinn hat. Mit dem Satze: „Ich bin“ sagt jemand aus, daß er sich in
der Welt, in der Gesamtheit der Wirkensverkettungen, findet. Hingegen
kann jemand sinnvoll nur sagen: „Ich soll etwas tun oder unter-
lassen“, und mit solchem Satze liegt dann ein „Möglichkeitsurteil“
vor, aber keineswegs etwa ein Urteil über die Möglichkeit der „Ich“
genannten Seele oder des „Ich“ genannten Menschen oder über die
Möglichkeit jenes Tuns oder Unterlassens, sondern ein Urteil über die
durch besonderen Anspruch begründete Möglichkeit, daß durch jenem
Tun oder Unterlassen entgegengesetztes Verhalten des „Ich“ ge-
nannten Menschen dessen Interessengesamtzustand verschlechtert wird.
Mit der Antithese von „Sein“ und „Sollen“ ist also nicht im mindesten
erklärt, was eigentlich das Gegebene „Sollen“ ist, und da man lieber
mit Worten dunklen Sinnes umherwirft, statt Gegebenes nüchtern zu
zergliedern, ist das Wort „Sollen“ zu einem geheiligten Fetischworte
geworden, das stets mit den Worten „Ideal“ und „Metaphysik“ auftritt.
Jedes „Sollen“ stellt sich nun ferner als eine Lage dar, welche
die Möglichkeit dafür bietet, daß auf besonderem Wege ein auf
den „Soller“ bezogener Unwert verwirklicht wird, nämlich durch Er-
fahrung besonderer vom „Soller“ verschiedener Seele, welche wir den
„Ansprucherfüllungs-Wahrer“ genannt haben, von besonderem Verhalten
des Sollers, welche Erfahrung in Beziehung zu seinem Wissen, daß
gegen den „Soller“ ein Anspruch auf entgegengesetztes Verhalten er-
hoben wurde, als grundlegender Bedingung, als wirkende Bedingung
dafür in Betracht kommt, daß der Ansprucherfüllungs-Wahrer Unlust
gewinnt, in deren Gegenständlichem sich die „Anspruch-Enttäuschung“
findet, In den „Gründen“ jedes „Sollens“ (jeder „Soll-Lage“) findet
Sich also stets Wissen besonderer Seele — des „Ansprucherfüllungs-
Wahrers“ — darum, daß gegen den „Soller“ ein Anspruch erhoben
wurde, und überdies auch „Empfänglichkeit“ des „Sollers“ für jenen Un-
wert, für dessen Verwirklichung das „Sollen“ die Möglichkeit bietet,
mit welcher „Empfänglichkeit“ allein eben jemand „Soller“, d. h. Be-
zogener eines „Sollens“ sein kann. In jeder „Soll-Folge-Verwirk-
lichung“, d. h. in jeder Verwirklichung eines Unwertes, für welche
ein „Sollen“ die Möglichkeit bietet, findet sich also stets „Erfahrung
des Ansprucherfüllungs-Wahrers von besonderem Verhalten des Sollers“
als wirkende Bedingung für die Verwirklichung eines auf den Soller
bezogenen Unwertes, im übrigen aber kann die „Soll-Folge-Verwirk-
lichung“ sich in Wirkensverkettungen verschiedener Art darstellen,
nämlich entweder a) in einer Wirkensverkettung zwischen Erfahrung
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