Full text: Die Konsumtion

114 I. Buch B III: K. Oldenberg, Wirtschaft, Bedarf u. Konsum. 
§ 4 
die Ausgabensteigerung, tritt in scharfen Konflikt r ) mit dem Sparen, von dem in 
§ 2 die Rede war; je mehr jährliche Ersparnis, um so weniger Aufwand. Am stärksten 
wird die Tendenz zur Ausgabensteigerung sein in emporkommenden Volkswirt 
schaften; sie kennzeichnet den Emporkömmling. Kaum irgendwo ist der Zusammen 
hang von Kaufkraft und Ansehen enger als in Nordamerika. Altgesättigte und 
stabile Volkswirtschaften wie die französische oder holländische kehren zu einer 
gewissen Genügsamkeit der Lebenshaltung bei breit ausgedehnter Spartätigkeit 
zurück. Vielleicht mit aus klimatischen Gründen sollen südländische Nationen zu 
einem genügsamen Rentnertum neigen. 
2. Hand in Hand mit dem Siege des Auszeichnungstriebs über die gebundene 
Sitte der überlieferten Lebenshaltung tritt die verstandesmäßige Aufklärung 
gegenüber der gebundenen Weltanschauung des Mittelalters ihren Siegeszug an. 
Wenn jener die Abhängigkeit' des Konsumenten von sozialen Mächten noch ver 
stärkt, macht diese ihn frei, aber nimmt ihm zugleich das Rückgrat, das bisher seiner 
Seele Halt und Inhalt gab, und der leere Spielraum der Seele füllt sich mit Surrogat- 
Inhalten. An die Stelle eines überweltlichen Lebensziels, das vorher den Menschen 
regiert hat, drängen sich weltliche Lebensziele * 2 ), und mit in erster Linie wirtschaft 
liche: Konsumtionsinteressen im weitesten Wortsinn, darunter neben dem anima 
lischen Genußtriebe, der wieder mehr in seine ursprünglichen Rechte tritt, und 
neben dem Reiz zu galantem Aufwande, dessen Ausdehnungsfähigkeit und geschicht 
liche Rolle unlängst Sombart 3 ) in sehr helles Licht gerückt hat, mit verstärkter 
Gewalt jener soziale Auszeichnungs- und Rivalitätstrieb, der sein Ziel mit wirtschaft 
lichen Mitteln erstrebt, und der erst unter dem Regime der Aufklärung seinen Ideal 
typus erreicht; „soziale Kapillarität“ hat ihn in seiner modernen Gestalt ein fran- 
sösischer Gelehrter 4 5 * * ) mit Anspielung auf das physikalische Kapillaritätsgesetz ge 
nannt: „wie das Oel im Lampendocht zur Flamme emporklettert“, so drängt der 
Mensch wie durch naturgesetzlichen Zwang sozial aufwärts, und dieser Trieb wird 
zur stärksten Großmacht in der Seele des modernen Durchschnittsmenschen, und 
zugleich zum stärksten unter den Faktoren, die die frei gewählte Konsumtion be 
herrschen. Man versteht die Richtung und den Sinn der heutigen Konsumtion 
nicht, ohne den beherrschenden Einfluß dieses Triebs und ohne die verstärkte Wucht 
einzuschätzen, mit der er im Zeitalter der Aufklärung in der führerlos und leer ge 
wordenen Seele wirkt 8 ). Erst in diesem Milieu erreicht die Fortschrittstendenz der 
Volkswirtschaft ihr heutiges Maximum. 
Das äußerliche Ergebnis dieses Fortschritts ist jene gewaltige Steigerung des 
Komforts, die eine oft überschwängliche internationale Befriedigung enthusiastischer 
Volkswirte ausgelöst hat: der Fortschritt von der Einfachheit in der Lebenshaltung 
zur Wohlhäbigkeit und zum Raffinement, vom Mehlbrei und der Salztunke der Vor 
fahren bis zum heutigen Menü, vom altfränkischen Bauernkittel bis zur Schneider 
akademie, von rohester Behausung bis zur großstädtischen Etage „mit allem Kom 
fort der Neuzeit“; und dieser Wechsel nicht nur zugunsten einer nicht allzu schmalen 
Oberschicht, sondern mutatis mutandis für alle Einkommensstufen, mindestens in 
der Gestalt reichlicher Flitterdekoration mit den Künsten des schönen Scheins, oft 
nur des anspruchsvollen Scheins, im Dienste des sozialen Ehrgeizes. Von 
x ) Unter Umständen kann allerdings auch der Spartrieb auf seine Art dem Rivalitäts 
triebe dienen, z. B. durch Grunderwerb. 
2 ) Vielleicht hat seit dem 19. Jahrhundert auch der im Großbetrieb erfolgende Mechani 
sierungsprozeß gewerblicher Arbeit, die vorher in sich selbst Befriedigung gewährte, eine ähn 
liche Wirkung: die unbefriedigende Berufsarbeit weckt den Genußtrieb; vgl. S c h m o 11 e r„ 
Zur Sozial- und Gewerbepolitik der Gegenwart, 1890, S. 33—34. 
3 ) Luxus und Kapitalismus, passim. 
4 ) D u m o n t. 
5 ) Auch für Gurewitsch, Die Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und die 
"Soziale Gliederung der Gesellschaft, Leipzig 1901, ist der soziale Ehrgeiz leitender Gesichts 
punkt für das Verständnis der Entwicklung der Bedürfnisse. 
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