22 Die Entstehung des wirtschaftlichen Imperialismus.
in Bereitschaft gehalten. Das indische Programm aber, das über Persien
und den Persischen Meerbusen hinaus die Tore des Indischen Ozeans und
das englische Indien bedrohte, war durch die Aufteilung der englischen
und russischen Einflußsphären in Persien, Afghanistan und Tibet von 1907
zu einem vorläufigen Abschlüsse gekommen. Das pazifische Programm,
das durch den Erwerb von Wladiwostok und Port Arthur (1898) und die
Besetzung der Mandschurei bereits Erfolge aufzuweisen hatte, mußte
infolge der Niederlage im Kriege mit Japan im Frieden von Portsmouth
(1905) geradezu aufgegeben werden.
Das zweite Motiv der wirtschaftlichen Expansion bildet das mit dem
Finanzminister W i 11 e einsetzende System der Industrialisie
rung Kußlands. Im Jahre 1877 ging die schutzzöllnerische Handels
politik Rußlands zum schroffen Prohibitivsystem über, indem sie den
Einfuhrzoll um ungefähr 50 % erhöhte und alle Zölle fortan in Gold ein
hob. Die deutsche Industrie (Wollweberei, chemische und die Maschinen
fabriken), die innerhalb der russischen Zollmauern Filialen errichtete,
drängte bereits im Jahre 1913 das englische Übergewicht auf dem russischen
Markte derart zurück, daß sie 50 % der Gesamteinfuhr an sich brachte
(v. Vogel, Wirtschaftskrieg 2, 1). Witte begünstigte die Gründung
französischer, belgischer und deutscher 'Unternehmungen in Rußland
seit 1889 derart, daß im Jahre 1901 bereits die Hälfte des industriellen
Aufschwungs auf die Massenproduktion entfiel. Derart hatte Rußland
mit dem Beginne des 20. Jahrhunderts aufgehört, ein r e i n e r Agrarstaat
zu sein (W ir th, Weltgeschichte 220). Die wirtschaftliche Eroberung
Rußlands durch Deutschland aber wurde durch den Handels- und Schiff
fahrtsvertrag vom 29. Januär (10. Februar) 1894 und durch dessen Er
neuerung während des Russisch-Japanischen Krieges im Jahre 1904
wesentlich gefördert. Dem gegenüber hatte der Panslawismus gerade im
Eindringen deutscher Arbeit und deutschen Kapitals den Grund für die
in der ersten Hälfte 1914 zum erstenmal hervortretende Passivität der
russischen Handelsbilanz gefunden. Die „Allrussische Gesellschaft“ von
1914 nahm den „Kampf gegen die deutsche Vergewaltigung
und für die Wiedergeburt Rußlands“ im Vereine mit vielen anderen Ge
sellschaften gleichen Zieles auf. Bereits vor Ausbruch des Weltkrieges
haben die Bezirkskongresse der Vertreter von Handel und Industrie, be
sonders derer von Kiew, die übergroße wirtschaftliche Ab
hängigkeit Rußlands von Deutschland betont (v. Vogel, Wirt
schaftskrieg 2, 7). Der vom Zaren bestätigte Ministerratsbeschluß vom
1. Juni 1916 setzte geradezu einen Ausschuß zur Bekämpfung der deutschen
Vorherrschaft („Sassilje“) ein (v. Vogel, Wirtschaftskrieg 2, 134).
Wir haben im russischen Imperialismus ein Beispiel für die Durch
dringung der nationalen Bewegung mit wirtschaftlichen Zielen, aber auch
ein Beispiel für die p o 1 i t i s c h e Abhängigkeit eines Landes von seiner