Um nun die Heimbedürftigkeit eines Krüppels zu beurteilen, ist
es immer notwendig, neben der Art seines Gebrechens auch die
sozialen Verhältnisse mit zu berücksichtigen. Ich möchte dieses an
einigen Fällen erläutern, und zwar möchte ich eine Krüppelsprech-
stunde vor Augen führen.
Eine Mutter kommt mit ihrem 6 Monate alten Kinde, welches an
angeborenen Klumpfüßen leidet. Nach unseren Erfahrungen bedarf
das Kind einer kurzen Behandlung, die in Gradestellung des Fußes
und Anlegung des Gipsverbandes besteht. Dieses Kind kann mit
seinem Gipsverbande gerade so gut, ja besser noch zu Hause sein wie
in der Anstalt, da es ja als Säugling zur Mutter gehört.
Ein anderes Kind wird gebracht, welches an angeborener Hüft-
gelenksverrenkung leidet. Nehmen wir an, das Kind wäre noch nicht
schulpflichtig. Unblutige Einrenkung, Anlegung des Gipsverbandes,
welcher längere Zeit liegen muß, sind notwendig. Das Liegen im
Gipsverbande kann genau so gut zu Hause geschehen, das Kind gehört
also nicht in eine Anstalt, vorausgesetzt natürlich, daß es zu Hause die
notwendige Pflege hat.
Gesetzt den Fall, dasselbe Kind wäre schulpflichtig und die Eltern
wären nicht in der Lage, das Kind zur Schule zu bringen oder ihm
zu Hause eine Schulausbildung zu ermöglichen, so gehört das Kind
auf jeden Fall in eine Anstalt, weil nur hier während der langen
Dauer der Behandlung eine Schulausbildung gewährleistet ist.
Weiter kommt die Mutter mit einem srchulpflichtigen Kinde,
welches an Wirbeltuberkulose leidet. Auch dieses Kind gehört so lange
in eine Anstalt, bis es nach Ausheilung im Stützkorsett am Normal-
schulunterricht wieder teilnehmen kann.
Kinder in Gipsbetten pflege ich nach Möglichkeit nur in Anstalts-
pflege zu behandeln, weil mir die Erfahrung gezeigt hat, daß bei
ambulanter Behandlung sich das Leiden sehr oft verschlimmert. Ob-
schon man den Eltern noch so oft klar macht, daß die Kinder dauernd
im Gipsbett liegen müssen, so findet man bei Revisionen doch immer
wieder, daß die Kinder aufstehen und sich dadurch ihr Leiden ver-
schlimmert. Das Verständnis der Eltern für die Schwere des Leidens
ist meistens nicht vorhanden, weil das Leiden äußerlich noch nicht
sichtbar ist. Auch haben die Eltern häufig garnicht die Möglichkeit, die
Kinder dauernd zu beaufsichtigen, weil doch im Arbeitersstande bei der
heutigen Arbeitslosennot auch die Mütter oft stundenlang aus ihren
Wohnungen entfernt sind, um zu waschen oder irgendwelche geld-
bringende Arbeit zu verrichten.
Kehren wir zurück zu unserer Krüppelsprechstunde. Es erscheinen
zwei verschiedene Kinder, jedes mit der gleichen schweren Kinder-
lähmung. Die Eltern des ersten Kindes befinden sich in guten sozialen
Verhältnissen. Sie sind in der Lage, dem Kinde, das durch ent-
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