menschliche Gemeinschaft viel nützlicher sei, alle Menschen nach eigenem
Willen denken, leben und handeln zu lassen, als sie zu zwingen, näch frem-
dem Willen zu leben und zu handeln. Die Gewissensfreiheit, die Berufs-,
Vereins-, Lehr- und Pressefreiheit waren für uns keinem Zweifel ausgesetzt.
Wir glaubten alle, kein menschlicher Fortschritt sei denkbar ohne die Siche-
rung der Freiheit. Keine, auch die gesetzlichste politische Macht hatte in
unseren Augen das Recht, die Minderheiten zu erdrücken.
Die Nationalökonomen betrachteten die wirtschaftliche Freiheit, welche
die Verteilung der Arbeit unter Individuen und Staaten bestimmte, als Grund-
lage der internationalen Beziehungen. Nicht nur Gelehrte und Politiker in
ihren besten Vertretern, auch Parlamente und Presse erkannten, daß nach so
vielem Ringen der Menschheit die Freiheit die äußere und innere Richtlinie
der Nationen sein müsse.
Jetzt ist es Sitte, die Freiheit zu lästern. In meiner Jugendzeit erstrebten
selbst die Politiker, die einer reaktionären Gesinnung beschuldigt waren, den
Beweis, daß zeitweilige Einschränkungen nur als Mittel für die Sicherstellung
der Freiheit anzusehen seien. Ich erinnere mich noch einer Unterredung mit
dem schon sehr bejahrten Crispi zur Zeit seiner größten Macht. Ich hatte
ihn der Verleugnung seiner Vergangenheit und reaktionärer Handlungen be-
schuldigt gehabt. Meine Artikel hatten ihn sehr schmerzlich getroffen, und
er verlangte mich sogleich zu sehen. Ich traf ihn in einem Zustand wirklicher
Aufregung. Er sprach wie Clemenceau in abgerissenen Sätzen, in prägnanten
Ausdrücken oft rauher, aber äußerst wirksamer Art. Unter allen europäischen
Politikern, die ich gekannt habe, sind sich wenige so ähnlich wie Crispi und
Clemenceau : dieselbe Art von übersteigertem Patriotismus, gleiches Miß-
trauen und Abneigung gegen Feinde, dieselbe Unfähigkeit zu vergessen, und
eine in die gleichen Worte gekleidete individualistische Einstellung. „Sie
haben mich beschuldigt, die Freiheit verletzt zu haben. Sie sind jung, können
Vieles noch nicht wissen. Sie kennen gewiß nicht mein Leben, welches ganz
der Freiheit geweiht war. Ich möchte lieber Italien arm sehen als reich und
in Knechtschaft. Keine Größe ohne Freiheit. Ich will die Größe Italiens, aber
vor allem die Freiheit Italiens.‘ Das waren seine Worte.
Erregt erklärte er mir den Sinn seiner Maßnahmen, die ein notwendiges
Provisorium seien. Ich war nicht ganz überzeugt, aber vor dem Schmerz des
Greises, der trotz vieler Fehler sein ganzes Leben feurig für Vaterland und
Freiheit gewirkt hatte, schämte ich mich meiner jugendlichen Keckheit und
gab ihm gerne zu, daß ich übertrieben und mich vielleicht getäuscht, aber
nie an seiner Gesinnung gezweifelt hatte.
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