ZUM GEDENKTAG DER REPUBLIK
Von Bundespräsident Dr. Michael Hainisch.
Am 20. Oktober des Jahres 1918 erhielt ich zu
meiner Ueberraschung die Finladung, am 2l. in
Audienz bei Kaiser Karl zu erscheinen. Ich fand mich
pünktlich im Alexandertrakt der Hofburg ein, mußte
aber längere Zeit warten, da eben ein Kronrat unter
dem Vorsitz des Kaisers stattfand. Der Kaiser empfing
mich außerordentlich liebenswürdig als Nachbar seines
Besitzes in Wartholz. Auf meine Frage, womit ich
Seiner Majestät dienen- könne, erwiderte der Kaiser,
er wünsche meine Meinung über die Lage des Staates
zu hören. Ich schickte voraus, daß ich mich nur als
unbeteiligter Zuschauer äußern könne, machte aber
kein Hehl daraus, daß nach meiner Ansicht der Staat
sich im Zustande der Auflösung befinde. F:s entspann
sich hierauf ein längeres Gespräch zwischen dem
Kaiser und mir, das, als ich mich erhoben hatte, seinen
Schluß in den Worten des Kaisers: „Ich glaube, die
Sache wird doch noch gehen”, fand. Die Sonne
Jutete vom äußeren Burgplatz in den Salon und die
Blätter auf den Kastanienbäumen und auf den Bäumen
des nahen Volksgartens gaben ein farbenprächtiges
Bild. Ich konnte mich, als ich über die Treppe hinab-
stieg, der Tränen der Rührung kaum erwehren. Ich
war zwar in demokratischen Anschauungen aufge-
wachsen und hatte somit für die Dynastie nicht viel
übrig; aber die Tragödie einer alten Familie ging
mir nahe. Ich kam mir vor, wie ein Arzt, der zu
einem lebensfrohen jungen Mann gerufen wurde und
ihn für verloren geben mußte.
Am Nachmittag desselben Tages fand im Land-
hause in der Herrengasse die Konstituierung der
Republik Deutsch-Österreich statt, Die Galerie faßte
nur wenige Menschen, obwohl es erwünscht yewesen
wäre, daß sich ein Akt von solcher Bedeutung mehr
in der Oeffentlichkeit abgespielt hätte. Die Reden,
die bei diesem Anlasse gehalten wurden, klangen ge-
dämpft; sie waren der Ausdruck einer gedrückten
Stimmung. Ich bekleidete damals als Vertrauensmann
der deutschösterreichischen Sparkassen das Amt eines
Generalrates der Oesterreichisch-ungarischen Bank. Da
ich der Meinung war, daß der Besitz der Noten-
presse ein Aktivum Oesterreichs darstelle, suchte ich
Verbindung mit dem Staatsrate, was mir um so eher
gelang, als ich die meisten seiner Mitglieder persönlich
kannte. Stets war ich bestrebt, die Verbindung mit
der Regierung, die angeknüpft worden war, aufrecht
zu erhalten, damit ich im Generalrate der Bank nicht
zegen die Absichten und Ziele der letzteren handle.
Dies führte mich oft zum Staatskanzler Dr. Renner,
wobei sich die Gelegenheit ergab, über alle Fragen
singehend zu sprechen. Ich wies schon damals Renner
larauf hin, daß die ganze Zukunft Oesterreichs von
ler Hebung der landwirtschaftlichhen Pro-
duktion und dem Ausbau. der Wasserkräfte
abhänge.
Es folgten zwei Jahre großer Unruhe und das In-
“eresse war einerseits durch den Friedensschluß und
ındererseits durch die Sozialisierungsbestrebungen in
Anspruch genommen. Daß diese zum Scheitern be-
stimmt seien, mußte jedem Volkswirt klar sein. Um
so wunderbarer war es, daß sich zahlreiche volks-
wirtschaftlich gebildete Männer durch Sozialisierungs-
ideen gefangen nehmen ließen. Ich habe das immer
für ein Zeichen der Macht der psvchischen Infektion
gehalten.
Im Dezember des Jahres 1020 wurde ich zum
Bundespräsidenten gewählt. Als man mir Mitteilung
nachte, daß ich ein Kandidat für diesen Posten sei,
arschrak ich aufrichtig. Ich legte mir die Frage vor,
ob ich nicht als völlig unabhängiger Mann mehr
wirken könne, denn als Präsident, der wesentlich nur
Repräsentationspflichten zu erfüllen hat. Wenn ich
nich schließlich doch veranlaßt sah, dem gewiß höchst
ehrenvollen Antrage, an die Spitze des Staates zu
reten, Folge zu leisten, so geschah es in der Erwägung,
laß ich zwar infolge unserer Verfassung nur wenig
‚eisten, aber immerhin manch VUebles verhindern
könne. Ich hielt es nämlich damals für möglich, daß
‚on der Stelle des Bundespräsidenten aus Intriguen
gegen die Neuordnung der Verhältnisse gesponnen
werden könnten.
Durch acht Jahre habe ich nun, abseits von dem
solitischen Getriebe, aber als aufmerksamer Zuschauer,
die Entwicklung Oesterreichs verfolgen können. Ich sah
len Abgrund, an dem wir uns im Sommer des Jahres 1922
»efanden und ich konnte mich der staatsmännischen
Kunst unseres Bundeskanzlers freuen, dem es gelang,
zunächst unsere Währung zu stabilisieren.