DIE VERFASSUNGSENTWICKLUNG IN DER REPUBLIK
ÖSTERREICH
Von Dr. Georg Froehlich, Vorstand der Verfassungsabteilung im Bundeskanzleramt
Die‘ geschichtliche Entwicklung der Verfassung in
der Republik Oesterreich zerfällt in zwei Hauptab-
Schnitte: in die Periode der provisorischen
Verfassungen, die mit dem am 10. November 1920
erfolgten Inkrafttreten des Bundes - Verfassungsgesetzes
vom I. Oktober 1920 ihr Ende fand, und in die Zeit der
Geltung des Bundes-Verfassungsgesetzes
Jede dieser Perioden kann wieder in zwei Phasen unter-
teilt werden : Die erste Verfassung der Republik war bis
zum 14. März 1919 in Geltung; an diesem Tage
wurde sie durch die in den Gesetzen über die Volks-
vertretung und über die Staatsregierung niedergelegte
Zweite provisorische Verfassung abgelöst. Das Bundes-
Verfassungsgesetz, also die definitive Verfassung wieder
war bis zu dem am 1. Oktober 1925 erfolgten Inkraft-
treten der Novellen vom :30. Juli 1925 noch nicht
voll in Wirksamkeit: erst von diesem Zeitpunkte an
galten auch die Bestimmungen über die endgültige
Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und
Ländern.
A) Die provisorischen Verfassungen,
I. Die staatlichen Neubildungen auf dem seiner-
zeitigen. Staatsgebiet des Kaiserstaates Oesterreich
sind revolutionär erfolgt: ihre Entstehung hatte nicht
die altösterreichische Rechtsordnung, im besonderen
nicht die altösterreichische Verfassung zur Grund-
lage. Der Zusammenbruch des Kaiserstaates bedeutete
Sein und daher auch seiner Rechtsordnung Ver-
schwinden, denn eine Rechtsordnung ist ohne Staat
ebensowenig möglich, wie ein Staat ohne Rechts-
Ordnung. Zwischen dem alten und den neuentstan-
denen Staaten besteht demnach keinerlei‘ rechtlicher
Zusammenhang; die Bezeichnung „Nachfolgestaat’
ist für unsere Republik — und ebenso auch für die
anderen neuen Staatsgebilde — unzutreffend.
Aus dieser rechtlichen Betrachtung geht hervor,
daß bei der Gründung des neuen Staates „Deutsch-
Österreich” — so war die ursprüngliche Staatsbezeich-
nung — ein rechtsleerer Raum vorhanden war. Diesen
Sofort möglichst auszufüllen, mußte vom ersten Ver-
fassungsgeber als drin gendste Notwendigkeit angesehen
werden. Tatsächlich wurde diese große Aufgabe auch
vollauf erkannt und erfüllt. Der den Staat Deutsch-
österreich formell gründende Beschluß. der
Provisorischen Nationalversammlung vom
30. Oktober 1918, StGBl. Nr. I, über die grund-
legenden Einrichtungen der Staatsgewalit
‘der sogenannte „grundlegende Beschluß”),
der die Staatsform und die obersten Staatsorgane des
ı1euen Staates bestimmt, ihre Bestellung, ihren Wir-
xungskreis und ihr Verhältnis zueinander regelt und
lamit die erste Verfassungsgrundlage darstellt, be-
stimmt nämlich auch, daß die Gesetze und Ein-
ichtungen, die im Zeitpunkt des Zusammenbruchs in
den „im Reichsrat vertretenen Königreichen und
Ländern” — also im alten Kaiserstaat — in Krafl
standen, für den neuen Staat, soweit sie nicht durch
die übrigen Bestimmungen des grundlegenden Be-
schlusses aufgehoben oder abgeändert sind, bis auf
weiteres in Geltung gesetzt werden. Damit war die
Generalrezeption des altösterreichischen Rechtes aus-
gesprochen; sie ermöglichte, die durch die neuen
Verhältnisse erforderlich werdenden Aenderungen
schrittweise durchzuführen.
Nach der ersten provisorischen Verfassung, die
nebst dem erwähnten grundlegenden Beschluß durch
las Gesetz vom 12. November 1918, StGBl. Nr. 5
über die Staats- und Regierungsform von Deutsch-
5sterreich bestimmtwar und durch die Verfassungsnovelle
vom 109. Dezember I918 ergänzt und abgeändert wurde,
ist die Staatsform die der demokratischen, auf dem
Grundsatz der Volkssouveränität beruhenden Republik;
die oberste Staatsgewalt steht dem Volk zu, das sie
aber durch die als seine Vertretung erklärte „Provi-
sorische Nationalversammlung” in der Weise ausübt,
daß diese als oberstes Staatsorgan eingesetzt wird
und alle Staatsfunktionen von ihr abzuleiten sind.
Es ist also der ganze Zuständigkeitskomplex
prinzipiell der Provisorischen Nationalversammlung
übertragen, sie ist aber durch die Verfassung ermäch-
tigt, mit den Teilen, die sie nicht selbst ausübt, andere
Organe zu betrauen. Damit ist jener Typus der reprä-
zentativen Demokratie, den man als „Parlamentsherr-
;chaft” jenem der Präsidentschaftsrepublik . (gewalten-
rennenden Demokratie) entgegenzustellen pflegt, wie
zaum in einer anderen Verfassung herausgearheitet. Die