Festsitzung des niederösterreichischen Landtages am 23. Oktober 1928
Präsident Ing. Karl Jukel hält im historischen Sitzungssaale des Landhauses, in dem auch die Nationalversammlung nach dem
Umsturz tagte, die Festrede anläßlich des zehnjährigen Bestandes der Republik
DIE WIEDERAUFBAUARBEIT IM LANDE NIEDERÖSTERREICH?)
Politische und verwaltungsrechtliche Ent-
wiclung.
Wenn in diesen Tagen ein Rückblick auf den zehn-
ährigen Bestand der Republik und auf die Aufbau-
arbeit, die in ihr von Bund und Ländern geleistet
wurde, gemacht wird, muß hiebei vor allem darauf
hingewiesen werden, daß dem Lande Niederösterreich
eine besonders schwierige Aufgabe in verwaltungs-
technischer und finanzieller Beziehung zugefallen ist.
Niederösterreich war bis zum Jahre 1921 mit Wien
zu einer politischen und wirtschaftlichen Einheit zu-
sammengefaßt und bildete ein einheitliches Ganzes, ob-
wohl Wien als Reichshaupt- und Residenzstadt von
jeher eine gewisse Sonderstellung einnahm. Selbst
anser Bundesverfassungsgesetz vom I. Oktober 1920
brachte nur eine zwieschlächtige Lösung der Frage
pezüglich Wiens und Niederösterreichs,
Abweichend von den anderen Ländern unterschied
lie Bundesverfassung bezüglich Niederösterreichs
zwischen den Wien und Niederösterreich-Land gemein-
samen und den nicht gemeinsamen Angelegenheiten;
während in den ersteren Niederösterreich ein einheit-
ches Land mit.einem eigenen, in zwei Kurien ge-
sliederten Landtag (dem sogenannten gemeinsamen
Landtag) und einem eigenen Verwaltungsorgane, der
sogenannten Verwaltungskommission, bildete, hatten
in den nicht gemeinsamen Angelegenheiten die beiden
Landesteile Wien und Niederösterreich-Land die
Stellung selbständiger Länder mit eigenen Landtagen
und Landesregierungen. Im Jahre 1921 wurde die
vollständige Trennung von Wien und Nieder-
5sterreich-Land in zwei selbständige Länder durch-
zeführt und nur zur Liquidierung der aus der be-
;tandenen Gemeinsamkeit sich ergebenden Angelegen-
heiten die sogenannte Abrechnungskommission einge-
setzt, die ihre Tätigkeit bereits seit langem beendet hat.
Aus dem Obengesagten ist ersichtlich, daß das
Land Niederösterreich eigentlich erst mit dem Jahre
‘Q21 zur vollen Selbständigkeit gelangte und erst von
da an sich seinen eigenen Haushalt in finanzieller
and verwaltungstechnischer Beziehung einrichten
konnte. Die Loslösung von Wien bedingte eine be-
deutende Einschränkung des Verwaltungsapparates,
die auch durchgeführt wurde. Das Wichtigste jedoch
war, die Finanzen des Landes nach den Schäden der
Kriegs- und Nachkriegszeit wieder auf gesunde Grund-
lagen zu stellen. Dies konnte erst nach der Stabilisierung
unserer Währung mit Aussicht auf Erfolg in Angriff
genommen werden. Die Arbeit war um so schwieriger,
als dem Lande als direkte Steuerquellen nur die Grund-
steuer und die Hauszinssteuer, die infolge des Mieter-
schutzes sehr gering ist, zur Verfügung standen und
2s im übrigen auf die Ueberweisungen aus den
*) Abgeschlossen‘ mit November 1928.