sein Dasein tatsächlich in Frage. Bald trat noch das
hoffnungslose Ringen um einen erträglichen Frieden
hinzu.
Gegen die finanzielle Not des Staates trachtete die
Nationalversammlung immer wieder, Abhilfe zu
schaffen durch Gesetze über Kreditoperationen, durch
Sicherstellung ausländischer Kredite auf verschiedenen
Wegen, durch ein Staatsmonopol auf Mineralwässer,
durch mehrere Steuergesetze. Die Volkswirtschaft wurde
gefördert durch das Abtorfungs-, das Wiederbesied-
lungs-, das Grundverkehrgesetz, durch Gesetze über
die Getreidebewirtschaftung, über die Agrarbehörden
und über die Regelung der Luftfahrt. Mehrere. Ge-
setze galten der Rechtspflege, auch wurde eine
Friedensamnestie beschlossen. Einen breiten Raum
nahm die soziale Fürsorge ein. Das Haus beschloß
unter anderem Gesetze über Bäckerarbeit, Nacht-
arbeit der Frauen und Jugendlichen, Ruhezeit und
Sonntagsruhe im Handelsgewerbe, Errichtung von
Betriebsräten, Arbeiterurlaube, den achtstündigen
Arbeitstag, FEinigungsämter und kollektive Arbeits-
verträge, Arbeiterkammern, den Dienstvertrag der
Hausgehilfen, über alle Zweige der Arbeiterversicherung,
insbesondere die Arbeitslosenversicherung, über die
Errichtung von Volkspflegestätten, ein Bergarbeiter-,
ein Journalisten-, ein Invalidenentschädigungsgesetz,
mehrere Gesetze zugunsten der Staatsangestellten,
Pensionisten, Lehrer und Geistlichen. Auch errichtete
die Nationalversammlung den Kriegsgeschädigten-
fonds und suchte den Kriegsgefangenen andauernd
Hilfe zu bringen. Dem Aufbau auf geistigem Gebiet
diente das Gesetz über die Staatserziehungsanstalten,
auf militärischem die Festigung der Staatsgewalt durch
das Gesetz über die Wehrmacht. Dieses wichtige
Gesetz räumte wieder der Nationalversammlung be-
deutsame Rechte ein: „Ueber das Heer verfügt die
Nationalversammlung” ($ 3). Im Staatsamte für Heeres-
wesen wird ein Zivilkommissariat errichtet, das aus fünf
Mitgliedern besteht, die von der Nationalversammlung
gewählt werden. Ueber die Einberufung der Reserve
und ihre Rückversetzung beschließt die National-
versammlung, nur bei Gefahr im Verzuge kann die
Staatsregierung sie einberufen, muß aber sofort die
nachträgliche Genehmigung der Nationalversammlung
einholen. Wenn der Staat bedroht ist, kann die
Nationalversammlung die Entlassung der Soldaten
und die Uebersetzung in die Reserve trotz vollstreckter
Dienstzeit aufschieben.
Schließlich stand die Volksvertretung vor der tragi-
schen Notwendigkeit, den Friedensvertrag von Saint
Germain zu genehmigen.
Alle diese Gesetze wurden geschaffen unter Fort-
bestand des Koalitionssystems aus der Provisorischen
Nationalversammlung, nur daß die Koalition sich
auf die beiden großen Parteien des Hauses be-
schränkte, während die Großdeutsche Partei an der
Regierungsbildung nicht teilnahm. Die Grundsätze
Jer Koalition wurden später sogar schriftlich aus-
ührlich niedergelegt. Im Juni 1920 brachte jedoch
ler tiefe Gegensatz, der beide Parteien innerlich
rennte, die Koalition zum Zerfall und die Regierung
Zenner trat zurück. Auf Antrag des Hauptausschusses
‚eschloß die Nationalversammlung ein Gesetz (StGBl.
Nr. 283), nach dem eine Uebergangsregierung auf
Srund des Parteienverhältnisses gebildet wurde. Am
7, Juli wurde dieses „Proporzkabinett” gewählt
ınd auf die Regierung Renner folgte eine Regierung
Aayr, formell ohne Mehrheit, zusammengesetzt aus
ijer sozialdemokratischen, vier christlichsozialen Mit-
zliedern, einem Vertreter der Großdeutschen Partei
ınd drei parteilosen Fachmännern. Sofort wurde die
igentlichste Aufgabe der Konstituierenden National-
‚ersammlung, die endgültige Verfassung auszuarbei-
en, in Angriff genommen. Nach langen Verhandlun-
zen, in denen namentlich zentralistische und länder-
Sderalistische Bestrebungen miteinander kämpften,
selang es im allgemeinen, zwischen den Gegensätzen
zu vermitteln und die wichtigsten Teile einer Verfas-
‚ung zu beschließen; ein Rest mußte allerdings der
Zukunft vorbehalten bleiben.
Die neue Verfassung, „womit die Republik
Jesterreichh als Bündesstaat eingerichtet
vird” (Gesetz vom I. Oktober 1920, StGBl. Nr. 450),
srachte auch für den gesetzgebenden Körper ein-
chneidende Veränderungen mit sich, indem sie vom
'in- zum Zweikammersystem überging und indem
ie die Aufgaben des Staatsoberhauptes von der
derson des Parlamentspräsidenten, der fortan auf
‚eine eigentlichen Funktionen beschränkt wird, ab-
rennte und einem besonderen Staatsorgan, dem Bundes-
‚räsidenten, übertrug. Soweit die Gesetzgebung Bundes-
ınd nicht Landessache ist (was in mehreren eingehenden
ırtikeln genau geregelt ’wird), übt sie „der vom
sanzen Bundesvolk gewählte Nationalrat — so der
jeue Name — gemeinsam mit dem von den Land-
:agen gewählten Bundesrat aus”.
Der Nationalrat, dem die Vertretung des ge-
‚amten Volkes obliegt, besteht aus 175 und den der
/ahl nach noch zu bestimmenden Abgeordneten des
3Zurgenlandes. Er wird nach gleichem, unmittelbarem,
zeheimem und persönlichem Wahlrecht der Männer
ınd Frauen, die vor dem I. Jänner des Wahltages
las 20. Lebensjahr überschritten haben, nach den
Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt, wobei jeder
Wahlberechtigte wählbar ist, der in dem angeführten
Zeitpunkt das 24. Lebensjahr überschritten hat, Die
Gesetzgehungsperiode dauert vier, nur die des ersten
Vationalrates vermöge Sondergesetzes drei Jahre.
Jer Nationalrat kann nur durch eigenen Beschluß
‚ertagt werden, wieder einberufen wird er durch
‚einen Präsidenten; dieser ist verpflichtet, ihn sofort
nzuberufen, wenn wenigstens ein Viertel seiner Mit-
zlieder oder die Bundesregierung es verlangt. Das Haus
cann durch einfaches Gesetz seine Auflösung vor Ablauf