Full text: Gesellschaftslehre

210 Die Abstufung der Gesellschaft (Gemeinschaft und „Gesellschaft“). ; 
Die verschiedenen Formen dieses Einheitsbewußtseins haben wir 
schon früher ($ 12) kennen gelernt. Erstens umfaßt das Ichbewußtsein 
typischerweise die Angelegenheiten derjenigen Personen, Gruppen oder 
sonstigen Gegenstände mit, mit denen sein Träger vergemeinschaftet ist, 
und dieser erlebt deren Schicksale (z. B. die Eltern die Schick- 
sale ihrer Kinder) als seine eigenen. Und ebenso empfindet der 
Einzelne Achtung und Mißachtung, die jemand seinen Genossen oder sei- 
aer Gruppe oder den sonst mit ihm durch Gemeinschaft verbundenen 
Gegenständen zollt, als die seinige: sein Selbstgefühl ist ihnen 
zegenüber erweitert in derselben Weise wie sein Ichbewußtisein. Zwei- 
tens können mehrere Personen in dieser Erweiterung zusam- 
menklingen und sich dabei in einer spezifischen Weise als eine Ein- 
heit empfinden, nämlich als ein „Wir“, das an die Stelle des „Ich“ 
tritt oder dieses wenigstens in den Hintergrund treten läßt. So regt sich 
der Korpsgeist bei einem Beamtenkollegium oder bei einer Schulklasse, 
wo deren Gesamtangelegenheiten, sei es auch nur in den besonderen Er- 
iebnissen eines einzelnen Genossen, in Frage kommen. Ähnlich spricht 
auch der Angestellte, der sich mit seiner Unternehmung innerlich ver- 
bunden fühlt, von „unseren“ Geschäften, indem er sich in seiner Vor- 
stellung mit den übrigen beteiligten Personen zu einer Einheit zusammen- 
zeschlossen fühlt. In derselben Weise kann auch das erweiterte Selbst- 
zefühl der verschiedenen Gemeinschaftsgenossen, wenn eine Angelegen- 
heit ihrer Bewertung durch andere unterliegt, zu einem kollektiven oder 
Gruppenselbstgefühl zusammenklingen. So kann das Ehrgefühl eines 
Offizierkorps verlegt werden durch einen Vorfall, der sich wiederum nur 
zegen ein einzelnes Mitglied zu richten braucht. Jeder Einzelne fühlt 
sich dabei in seinem Selbstgefühl verlegt, weil dieses ebenso wie seine 
persönliche Ehre auch die Ehre des Offizierkorps als seine eigene mit- 
amfaßt; und wenn sich die Mitglieder bei einer Erörterung der An- 
zelegenheit beisammen befinden, dann schwingen diese Regungen in 
einem kollektiven Akt des verlegten Gruppenselbstgefühls zusammen. 
2. Das Gemeinschaftsverhältnis hat nach seiner Natur Dauer- 
charakter. Und zwar gilt das in einem doppelten Sinne, 
nämlich sowohl subjektiv wie objektiv. Zunächst wird der Zustand der 
Verbundenheit, wo er erlebt wird, stets als ein Dauerzustand auf - 
gefaßt. Auch wo es sich um ein schnell vorübergehendes Gemein- 
schaftserlebnis handelt (etwa die gemeinschaftliche Abwehr eines schneil 
vorübergehenden verbalen Angriffs, den ein fremder Mensch gegen eine 
Gruppe gerichtet hat), wird die innere Verbundenheit als ein Zustand 
empfunden, der jenen Vorgang nach seinem Wesen überdauert. Und 
zbenso hat, objektiv betrachtet, das Gemeinschaftsverhalten stets
	        
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