Full text: Gesellschaftslehre

Die Eigenschaften der Masse. 
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denden Veränderung in der ganzen Haltung gegenüber dem Verhalten 
des einzelnen in der gleichen Lage in vielen Fällen nicht zu zweifeln 
(während in anderen Fällen auch hier nur eine Verstärkung vorhandener 
individueller Eigenschaften vorliegt).» Politische Versammlungen können 
einen Radikalismus zeigen, den der größere Teil der Mitglieder für sich 
befragt mit voller Aufrichtigkeit verleugnet. Über den bloßen Einfluß 
der Zahlen bei Parteiversammlungen sagt ein bekannter Gelehrter: „Es 
ist Erfahrungstatsache, daß Riesenversammlungen, ja selbst selektierte 
Parteitage durch Akklamation oder durch Abstimmung in Bausch und 
Bogen Resolutionen anzunehmen pflegen, denen dieselbe Versammlung, 
in Gruppen von je 50 Personen eingeteilt, sich hüten würde ihre Zu- 
stimmung zu erteilen?!).“ 
Für ‚diese Veränderung lassen sich namentlich die folgenden 
Gründe angeben. Erstens wird in einer Vielheit die Leichtgläubigkeit 
und ebenso die Neigung zu raschen Entschlüssen erhöht durch den Man- 
zel an Verantwortlichkeit, den für jeden Einzelnen sein 
Aufgehen in der Gruppe mit sich bringt: schon das Kollegium hat, wie 
man sagt, einen breiten Rücken. Ferner werden bei der Gefühlsübertra- 
gung etwa vorhandene Affekte durch Wechselwirkungen gestei- 
Zzert: politische und andere Leidenschaften werden so in der Gesamt- 
heit sich stärker bemerklich machen als beim Einzelnen, ähnlich wie das 
schon vom Beifall oder der Entrüstung eines Publikums bei öffentlichen 
Aufführungen gilt. — Auch Affekte formaler Natur begünstigen eine 
Steigerung der Emotionalität. Das Beisammensein einer großen Men- 
schenmenge erzeugt in dem Einzelnen leicht eine gewisse Befangenheit 
und Erregung nach Art des Ballfiebers. Dadurch wird er in seiner 
Sicherheit erschüttert und der gewohnten Ruhe beim Urteilen und Ent- 
schließen beraubt. Auch die äußeren Verhältnisse können ähnlich wirken, 
z. B. ungewohnte Räume von riesigen Dimensionen, die schlechte Luft 
bei Volksversammlungen, die schwere Verständlichkeit des Redners, die 
ungenügende Beleuchtung bei nächtlichen Straßenszenen usw. Ferner 
sprechen die Eigenschaften mit, die dazu angetan sind, zur Führer- 
schaft innerhalb einer Masse zu verhelfen. Am meisten kommen 
dafür energische, schnelle und resolute Naturen in Betracht, nicht aber 
die Urteilsfähigsten und Besonnensten: diese sind oft langsamer mit sich 
fertig als jene und fürchten dann sich durch ihren Widerspruch lächerlich 
zu machen. — Endlich denke man an die Stärke des kollektiven 
Selbstgefühls bei großen Versammlungen. Der Einzelne fühlt sich 
der Masse gegenüber schwach und wertlos; indem er innerlich in ihr 
aufgeht und ihr beistimmt, fühlt er sich von ihrer Riesenmacht erfaßt 
) Robert Michels, Soziologie des Parteiwesens. S. 25.
	        
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