Die Eigenschaften der Masse.
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geschickte Hände lenksam und geradezu polarisierbar. Sie werden fort-
gesett von einer Presse und allerlei Massenkundgebungen beeinflußt,
die sich recht radikaler Mittel bedienen. Sie haben Laiencharakter, kein
tieferes Verantwortungsbewußtsein, ‚wie es dem dazu erzogenen Beamten
oder Fachmann eigen ist, dafür aber ein umso stärkeres Selbst- und
Machtgefühl, sind von einem rationalistischen Geist der Kritik und des
Besserwissens und zum Teil überdies vom Ressentiment gegen gewisse
Autoritäten und Institutionen erfüllt. Kurz, sie zeigen gegenüber der
durchschnittlichen und ursprünglichen Art des Menschenlebens einen ge-
wissen Grad von Zersegung und Auflösung. Daß dieser Typus für ge-
wisse Arten der Beeinflussung besonders empfänglich ist, liegt auf der
Hand. Man sieht aber auch, daß es sich bei der so verstandenen „Masse“
weniger um einen soziologischen als um einenhistorischen
Begriff handelt.
14. Eine positive Ergänzung zu der Lehre von der Masse hat
Theodor Geiger in der folgenden Richtung gegeben. Er denkt
dabei freilich nur an diejenigen Massen, die sich bei einer Revolution be-
tätigen. Die Wucht ihres Auftretens und ihr radikales Durchbrechen
aller sonst streng gewahrten Schranken dabei glaubt er nur erklären zu
können aus einem umfassenderen Zusammenhang, in den die Massen-
aktion eingereiht ist. Sie ist nämlich die Aktualisierung eines dauernden
sozialen Zustandes von Gruppencharakter. Und zwar umfaßt dieser (der
Verfasser denkt an die heutigen Verhältnisse) das ganze Proletariat, so
daß die jeweilig handelnde Masse sich als Teil und Vertreter einer gro-
Ben Gruppe fühlt. Der sie beherrschende Geist ist der Geist der radika-
len Verneinung des Bestehenden, aus dem heraus die Ausbrüche im ein-
zelnen Fall hervorgehen. —
Literatur: Le Bon, Psychologie des foules, auch übersegt unter dem
Titel: Psychologie der Massen. — Sighele, Psychologie des sectes. — Derselbe,
La foule criminelle. — Simmel, Grundfragen der Soziologie S. 41 fg. — Auch das
Buch von Otto Stoll, Hypnotismus und Suggestion in der Völkerpsychologie
2. Aufl., Leipzig 1904, das viele Beispiele von Massenaktionen enthält. bewegt sich in
lemselben Gedankenkreis. Viel zutreffender ist dagegen die Auffassung, die Ales-
sandro Manzoni in seinem bekannten Roman entwickelt bei der Schilderung der Pest
und der durch sie in der Masse erweckten Befürchtungen und deren Betätigung (II,
214 fg. in der Cottaschen deutschen Ausgabe der „Verlobten‘“): das Grundübel, die
eigentliche Ursache der Unvernünftigkeit des Volkes, liegt darin, daß das Sprechen
dem Denken stets vorauseilt — also eine streng individuelle Ursache. — Gesunde
Grundauffassung bei Mc Dougall, The group mind S. 41 bis 47. Theodor
Geiger, Die Masse und ihre Aktion, Stuttgart 1926 (s. oben im Text). Ferner
Schneersohn im Ethos I Heft 1.