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19. Diese Episode in der Entwicklungsgeschichte der Statistik
ist allerdings recht alleinstehend, jedoch keineswegs unbedeutsam,
wo es sich um das Verständnis der gegenseitigen Beziehungen
zwischen den Richtungen innerhalb der Statistik handelt. An-
scheinend setzte die deutsche Universitätsstatistik nach diesen
Stürmen ihre Arbeit fort; blättert man jedoch die Beiträge des
19. Jahrhunderts zur Staatenkunde durch, so erkennt man sofort,
laß diese Disziplin nicht von der Kritik unbeeinflußt blieb.
Die „Tabellenstatistik“ bildet, wie oben erwähnt, eine Brücke
zwischen der Universitätsstatistik und den übrigen Richtungen der
Statistik. Man kann sie als einen Ausläufer der politischen Arith-
metik bezeichnen, deren Entwicklung in großen Zügen weiter unten
geschildert wird.
Der Streit zwischen der Göttinger Schule und der Tabellen-
statistik wurde, wie gewöhnlich bei solchen Debatten, nicht förmlich
abgeschlossen. Hinsichtlich der Universitätsstatistik kann eine Jugend-
schrift des späteren berühmten Nationalökonomen Carl Knies (1821
—1898), „Die Statistik als selbstständige Wissenschaft“ (1850) ange-
führt werden, die mit musterhafter Klarheit den Unterschied zwischen
der Statistik als Staatenkunde und als politische Arithmetik fest-
legte. Für die letztere schlug er den Namen Statistik, für die
erstere die Bezeichnung „Gegenwartskunde“.oder „Staatenkunde der
Gegenwart“ vor. Dies stimmt zu der jetzigen allgemein herrschenden
Auffassung. Man wird hiernach dann im wesentlichen die Uni-
versitätsstatistik als ein Fach betrachten können, das nur indirekt
die eigentliche Statistik berührt und nur auf Grund der geschehenen
eigenartigen Namensänderung einen Platz in der Geschichte der
Statistik gewonnen hat.
B. Die politische Arithmetik und die Wahrscheinlichkeits-
rechnung.
20. Die Wiege der politischen Arithmetik stand in London, wo
im Jahre 1662 ein Kaufmann, John Graunt (1620—1674), ein
eigenartiges Buch herausgab: Natural and wolitical Observations
upon the Bills of Mortality.
London hatte im 17. Jahrhundert mit seinen einigen Hundert-
tausend Einwohnern eine bedeutende Größe erreicht. Schon eine
weit geringere Anhäufung von Menschen verursachte in jenen Zeiten
große Schwierigkeiten. Schwer war die tägliche Versorgung der
Bevölkerung mit Lebensmitteln; viel schlimmer jedoch stand es um