260 GEOGRAPHISCHE STAATENKUNDE
sames geistiges Leben, gemeinsamer Staatsverband — alles das können
wichtige und wesentliche Merkmale einer Nation sein, ohne daß jede Nation
zie alle zusammen besitzen müßte, um eine Nation zu sein. (F. Meinecke.)
Soweit sich das Zusammengehörigkeitsgefühl der Nation auf ihren Wohn-
raum bezieht, den das Volk als gemeinsamen unveräußerlichen Besitz empfindet,
kommt diese Empfindung am stärksten zum Ausdruck in der Vaterlands-
liebe, In manchen Fällen wird die Einheit und Tatkraft einer Nation noch
gefördert und angestachelt durch eine bestimmte nationale Idee, ein großes
politisches Ziel, das, in eine geschickte Form gekleidet, sozusagen ein poli-
tisches Schlagwort oder Feldgeschrei abgibt. Ein solches ist z. B. die sogenannte
„Monroedoktrin‘“ der Amerikaner, jener Ausspruch des Präsidenten James
Monroe (1817—1825), der in den Worten: „Amerika den Amerikanern“ sich
jede Einmischung europäischer Staaten in amerikanische Angelegenheiten ver-
bittet und zugleich für «die Union die Stellung eines Schutzherrn auch über
die mittel- und südamerikanischen Staaten beansprucht. — Hierher gehört auch
die alle Klassen des englischen Volkes durchdringende Meinung, daß die Eng-
länder dazu berufen seien, allen anderen Völkern der Erde erst die wahre
Kultur und das rechte Glück unter ihrer Herrschaft zu bringen. — Manchmal
knüpft sich eine solche Staatsidee an ein bestimmtes geographisches Objekt,
so wenn wir den Rhein als den deutschen Strom, als heiliges Gut des deutschen
Volkes verehren, oder wenn die Franzosen den Revanchegedanken mit Hinweis
auf Elsaß-Lothringen mehr als vierzig Jahre hindurch lebendig erhielten. Der
Gedanke an sein Vaterland ist für den Engländer immer verknüpft mit dem
der Beherrschung des Meeres: „Rule Britannia, Britannia rule the waves“.
Nationalstaaten und Nationalitätenstaaten. Hinsichtlich der völ-
kischen Zusammensetzung können wir solche Staaten unterscheiden,
deren Gebiet von einer einzigen Nation bewohnt wird, und solche,
innerhalb deren Grenzen sich zwei oder mehr Nationen befinden. Die
ersteren nennen wir Nationalstaaten, die anderen Nationalitäten-
staaten, wohl auch Territorialstaaten.
Reine Nationalstaaten, d. h. also solche, in denen eine Nation 100%
der Bevölkerung ausmacht, sind verhältnismäßig selten. In Europa
waren es vor 1914 nur die drei nordischen Reiche: Norwegen, Schweden
and Dänemark. Heute dürften auch das Deutsche Reich, die Österrei-
chische Republik, Ungarn, Bulgarien als reine Nationalstaaten anzuspre-
chen sein. Doch rechnen wir auch solche Staaten zu den Nationalstaaten,
von deren Bevölkerung ein stark überwiegender Teil einer
Hauptnation angehört, während andere Nationen nur mit verschwin-
dend kleinen Mengen vertreten und daher politisch ohne Bedeutung sind.
So gehören in Italien und Portugal 99%, in den Niederlanden 98%, in
England und Spanien 97%, in Griechenland und Frankreich 94% der Be-
völkerung der Hauptnation an. Aber auch Rumänien, Estland, Japan, China,
alle amerikanischen Staaten können wir noch als Nationalstaaten bezeichnen.
Dagegen sind die bekanntesten Beispiele für Nationalitätenstaaten
die alte Donaumonarchie und das Königreich Belgien.
Das belgische Volk zerfällt zu nahezu gleichen Hälften: in germanische
Flamen und keltische Wallonen. Der alten Donaumonarchie aber gehörten
nicht weniger als neun Hauptnationen an, von denen die kopfreichste, die
deutsche, immerhin nur 23% der Gesamtbevölkerung ausmachte. Neben ihr
standen mit erheblichen Zahlen vor allem die Ungarn (20%) und Tschechen
1 In Großbritannien und Irland sind von der Gesamtbevölkerung 97%, der Sprache nach,
84% der Abstammung nach Engländer. (Nach letzter Zählung der Nationalitäten: 1891.)