Die Macht.
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fehlt. Es ist also reine Dichtung, die „Sittlichkeit“ bloß auf das „Ge-
wissen“ aufzubauen und gar davon zu sprechen, daß das „Gewissen“
„gebietet“ und „verbietet“, und daß die „Sanktion“ solcher Ansprüche
eine „sittliche Reue“ darstellt, Denn, ob jemandem ein „Wollen bzw.
Wider-Wollen sittlicher Gesinnung“ oder eine „sittliche Reue“ zugehörig
wird, hängt nicht bloß von seinem „Gewissen“, sondern auch von seiner
Empfänglichkeit für besondere Unlust bzw. Lust ab, hängt also keines-
wegs bloß von seiner „reinen Vernunft“ ab, so daß schon aus diesem
Grunde die Behauptung, die Sittlichkeit gründe auf „Geboten der reinen
Vernunft“, schlechthin sinnleer ist, ganz abgesehen von dem Umstande,
daß „reine Vernunft“ (== „Denken“) als Allgemeines gar nicht gebieten
kann. Es gibt „Richtlinien bzw. Wider-Richtlinien sittlichen Verhaltens“,
aber „Richtlinien bzw. Wider-Richtlinien“ sind nicht „Gebote bzw. Ver-
bote“, sind keine Ansprüche, in der „Gebotethik“ jedoch führt die ver-
hängnisvolle Verwechslung von „Anspruch“ und „Richtlinie“ („Norm“)
von „Gesetz als Anspruch“ und „Gesetz als identisch begründete Wir-
genszusammengehörigkeit“ zu der Behauptung, daß ein Allgemeines,
welches sich als ein Wissen um besondere Richtlinie darstellt, ein
Verhalten gemäß jenen Richtlinien beansprucht, welche Behauptung
aber nur reine „Dichtung“ ist.
Nun könnte man aber etwa auf dem Boden einer von den Ge-
danken der „Gebotethik“ gereinigten „Gewissensethik“ sagen, daß „sitt-
liches Verhalten“ jemandes jedes Verhalten sei, welches ihm durch sein
Wissen um bestehende eigene „sittliche Pflicht“ zugehörig wurde, also
jedes Verhalten, mit welchem darauf gezielt wird, daß nicht der eigenen
Seele kraft ihres „Gewissens“ als unmittelbarer grundlegender Bedingung
eine „sittliche Reue“ zugehörig wird. Indes ergibt sich aus dem Ge-
sagten, daß ein solches Verhalten kein „sittliches“ Verhalten wäre, da
in solchem Falle kein Verhalten-Seelenaugenblick vorliegt, in welchem
sich ein emotionaler Gegensatz zwischen gegenwärtiger „Unlust sittlicher
Gesinnung“ und gedachter „Lust sittlicher: Gesinnung“ oder zwischen
gegenwärtiger „Lust sittlicher Gesinnung“ und gedachter „Unlust sitt-
licher Gesinnung“ findet. Gibt etwa jemand eine Sache, welche er
gefunden hat, dem Eigentümer „aus sittlicher Gesinnung“ zurück, so
zielt er lediglich darauf, Lust an dem Sachverhalte zu gewinnen, daß der
Eigentümer die verlorene Sache wieder in seinem Besitze hat, er zielt aber
2icht auf Verhinderung des Gewinnes „sittlicher Reue“, da ihm, falls
er überhaupt durch seine Handlung Lust sittlicher Ge-
Sinnung gewinnen will, gar kein Gedanke an die Mög-
lichkeit eigener sittlicher Reue an dem Lassen jener
Handlung zugehören kann. Wird hingegen die Sache dem Eigen-
tümer zurückgegeben, um den Gewinn eigener sittlicher Reue zu ver-
hindern, so gehört dem Handelnden gar keine Unlust sittlicher Ge-