Full text: Die Tarifreform von 1879

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und Klugheit der siegestrunkenen Majorität hätten gebieten 
sollen. Unter den 186 Stimmen für diesen Antrag waren nioht 
weniger als 100 Grossgrundbesitzer und etwa 10 Kompromiss- 
Industrielle. Es dürfte in den parlamentarischen Annalen kaum 
ein zweites Beispiel geben, wo eine Majorität von Privatinter 
essenten, weit über das ihnen schon von der Regierung frei 
willig dargehotene hinausgehend, sich selbst solche Schutzzölle 
bewilligt hat. Der Mirbach’sche Roggenzoll bildet die Achillesferse 
des Tarifs von 1879; hier muss und wird die erste Bresche ge 
legt werden, die ihn Uber kurz oder lang zu Fall bringt. 
Professor Gneist, der für die Tarifreform stimmte, sagt in 
seinem neuen Werk „Der Rechtsstaat und die Verwaltungs 
gerichte in Deutschland“: „kaum sei der socialdemokratischen 
Propaganda durch die Macht des Staates Ruhe geboten, so 
erscheine in den besitzenden Klassen ein Wetteifer in Bethätigung 
verwandter Gesinnung, welche die Erhöhung des eigenen Ein 
kommens auf Kosten des Gesammtwohls als patriotische Real 
politik proklamire.“ 
Noch schärfer drückt sich Professor von Treitschke aus, 
der ebenfalls, der Finanzzölle halber, für die Tarifreform stimmte. 
In einem jüngst in seinen Jahrbüchern erschienen Aufsatz: 
„der Reichstag und die Finanzreform,“ fallt er folgendes Urtheil: 
„Weit bedenklicher als manche anfechtbare Bestimmungen des 
Tarifs selber erscheint die neue Praxis wirtschaftlicher In 
teressenpolitik, die sich im Verlaufe dieser Session zu trauriger 
Virtuosität ausgebildet hat. Tarifberathungen sind von jeher 
die schwache Seite des Parlamentarismus gewesen, weil sie 
jeden, auch den sachkundigen Abgeordneten zwingen, zuweilen 
über unverstandene Dinge mitzustimmen, und weil sie der Klassen 
selbstsucht Thür und Thor öffnen. Vor der offenbaren Corruption, 
welche in anderen Ländern hei solchen Gelegenheiten eine 
Rolle zu spielen pflegt, hat sich der gesunde Sinn der Deutschen 
zwar vorderhand noch gehütet; aber das persönliche Interesse 
trat mit erstaunlicher Unbefangenheit auf, gebärdete sich als 
patriotische Realpolitik, zieh Jeden, der noch an das gemeine 
Wohl zu erinnern wagte, des Doktrinarismus. Die verschiedenen 
Interessengruppen schaarten sich zu unnatürlichen Coalitionen 
zusammen; Dutzende von Interessenten stimmten für Zollsätze,
	        
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